✴︎ Kapitel 16 ✴︎

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Paul war es tatsächlich gelungen, Mama davon zu überzeugen, heute zuhause bleiben zu können. Er hatte Übelkeit vorgetäuscht, hatte vorgegeben, ihm sei zu schlecht, um überhaupt an das Frühstück zu denken. Mama hatte besorgt dreingeschaut und gefragt, ob sie ihn zum Arzt fahren sollte. Paul hatte hastig eingelenkt, dass es so schlimm nun auch nicht sei, aber er wolle lieber nicht in die Schule und da vielleicht alles vollkotzen. Mama hatte angeboten, ihrem kleinen Paul einen Kamillentee zu machen, weil der den Magen beruhigen würde. Den hatte er angenommen.

Papa war, nachdem er seinem Sprössling gute Besserung gewünscht hatte, zur Arbeit gegangen und Mama kurz danach ebenfalls. Aber nicht, bevor sie sich nicht von Paul hatte bestätigen lassen, dass er auch allein zurecht kommen würde. Ja, Paul war schon ein großer Junge, daran musste er Mama das eine oder andere Mal erinnern. Sie hatte einen Eimer aus dem Bad geholt und Paul in die Hand gedrückt. Mit dem Eimer in der einen und der Tasse dampfenden Kamillentee in der anderen Hand war Paul die Treppe hoch in sein Zimmer gegangen.

Als er die Tür ins Schloss fallen hörte, ging er an das Fenster in seinem Zimmer und sah, wie seine Mama in geschäftigem Laufschritt in ihren klackenden Pumps die Straße entlang ging. Ab jetzt hatte er mindestens vier Stunden sturmfrei und davon wollte er keine einzige Sekunde verschwenden. Eilig zog er sich seine Jeans und den roten Kapuzenpullover an, von dem Alina immer behauptete, dass die Farbe sich mit Pauls Ginger-Haaren beißen würde. Was sie nicht sagte. Wenn Paul das gelingen würde, was er vorhatte, dann würde sie sich nie wieder mehr über ihn lustig machen. Dann würde sich überhaupt niemand mehr lustig machen.

Der Tag versprach, ein warmer zu werden, weshalb Paul auf eine Jacke verzichtete. Er nahm sein Tablet und eine Flasche Wasser und packte beides in seinen Rucksack, der sonst als Transportmittel für Schulbücher und Stifte diente. Das Tablet war ein Alleskönner; man konnte damit Fotos und auch Audioaufnahmen machen. Und vieles mehr. Bei einer investigativen Untersuchung, wie Paul sie vorhatte, war so ein Equipment enorm wichtig. Ein guter Detektiv war eben immer auf alles vorbereitet. Ein guter Detektiv hatte für jeden Fall die richtige Ausrüstung dabei. Ein guter Detektiv wie Paul.

Zufrieden mit seiner technischen Ausstattung setzte sich Paul auf die letzte Treppenstufe und schnürte sich die Schuhe zu. Neben der Garderobe direkt gegenüber von der Treppe hing ein großer schmaler Spiegel. Auf den hatte Mama bestanden. Paul stellte sich davor und sah hinein. Sah einen rothaarigen Jungen mit dunkelblauen Augen, in denen der Tatendrang funkelte. Detektiv Paul Kämper, dachte er zufrieden, schulterte den Rucksack und verließ das Haus.


***


„Miststück ...", krächzte er und hielt sich die Stelle, an der sie ihn getroffen hatte. So ziemlich genau dort, wo die Nerven des Körpers sich bündelten, was Morgan gerade auch eindrücklich spürte. Sie hatte exakt gewusst, welche Punkte sie treffen musste. Es war Morgan, als würde man ihn aus der Mitte heraus zerreißen. Aus dem Inneren des Käfigs erhielt er keine Antwort, nicht einmal eine Regung.

„Komm raus, Miststück!", rief er, während er sich mühsam aufrichtete. Er wollte ihr keine Genugtuung verschaffen. Hellbrauner Schlamm klebte an seinem Mantel. Und Pferdemist. Widerwärtig. An den Ärmeln, am Rücken, an den Beinen, überall. Seine Sicht wurde für einen Moment noch schlechter als sie ohnehin schon war. Schmerzerfüllt hielt Morgan sich den Kopf. Wie hatte sie es wagen können ...? Wie? Man musste schon weit mehr als lebensmüde sein, Morgan bloß Widerworte zu geben. Aber das hier ...

Vor Zorn blieb ihm die Stimme weg. Wankend richtete er sich auf und versuchte, den Fokus wiederherzustellen. Als wollte er das Objektiv scharf stellen, obwohl die Linse total verkratzt war. Die Zeit rann davon, aber es war nicht so schlimm. Weglaufen konnte sie ihm sowieso nicht. Das, was sie gerade getan hatte, gewährte ihr vielleicht ein paar Minuten Aufschub. Aber auch nur solange, bis Morgan sich wieder gefasst hatte. Dann würde es ihr an den Kragen gehen.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt