✴︎ Kapitel 35 ✴︎

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„Er kommt", flüsterte Andor und deutete auf eine Stelle, an der zwei junge Bäumchen wuchsen. Es war ein klarer Tag, doch die Gestalt, die erschien, machte den Eindruck, als würde sie aus einem dichten Nebel heraus auf sie zukommen. Eine prächtige Erscheinung gekleidet in einen dunkelblauen Umhang aus Stoffen, die die irdische Seide in ihrer Eleganz und Geschmeidigkeit um Längen übertraf. Lange dunkle Haare wehten um das wohlgeformte Gesicht, aus dem tiefblaue Augen hervorblitzten.

„Georgina!", rief er mit kühlem Entzücken, als würde er einen Gast begrüßen, der nicht eingeladen war. Er will mich nicht, dachte Georgina in dem Moment, er will nur seine Tochter. Doch warum hatte er sie dann hierher gelockt? Und Andor? Obwohl ihr die Fragen unablässig durch den Kopf schwirrten, dämmerte es Georgina allmählich. Morgan wollte seine Tochter holen und die beiden Verräter würde er untergehen lassen ... Es war seine Art, eine große Show zu inszenieren. Oder ... er würde sie für seine Turniere einsetzen.

Die Turniere, die in den tiefsten Untiefen seines Refugiums stattfanden. So genau wusste es niemand, denn keiner der abtrünnigen oder gefallenen Magier, die Morgan zu fassen bekommen hatte, würde es jemals aus der verdammten Verlies dort unten ans Tageslicht schaffen. Gerüchte kursierten zuhauf und jedes von ihnen hatte das Potenzial, den Namen Morgans zu einem noch größeren Mysterium aufzublasen.

„Wie ich sehe, sind wir beinahe vollzählig", fuhr Morgan fort.

„Wo ist Anela?", fragte Georgina. Sie wollte es schreien, doch Morgans Präsenz nahm ihr den Atem.

„Sagen wir es so: Einer meiner Arbeiter wird sie mir bringen ...", antwortete Morgan genüsslich. Sein ebenmäßiges Gesicht war wunderschön und schrecklich zugleich, die eisigen Augen waren ein zugefrorener Ozean und ließen kein Gefühl nach außen dringen.

„Sie will nichts von dir wissen", rief Georgina ihm entgegen. Sie hatte Lust, Morgan alle Gemeinheiten dieser Welt an den Kopf zu werfen. Diesem regungslosen Gesicht, diesen gefühllosen Augen.

„Sie ist noch jung. Weißt du, mein Liebes, junge Magier sind wie weicher Ton. Du kannst sie formen, ganz nach Belieben. Jede Möglichkeit steht dir dazu offen. Ob rund oder eckig, du kannst sie in jede Form bringen, die du dir wünscht. Aber du musst dich beeilen, denn wenn der Ton einmal ausgehärtet ist, dann hast du diese Möglichkeit nicht mehr. Dann kannst du höchstens mit einer Feile die Unebenheiten abschleifen ...", sinnierte Morgan. Dabei sah er sich im Wald um wie in einem schön eingerichteten Raum, den er eben betreten hatte. Als Georgina nichts darauf antwortete, erfasste er sie wieder mit seinem Blick.

„Mag sein, dass Anela schon zu viel unter eurem Einfluss gestanden hat, ja. Aber wenn sie erst einmal einen Schluck der unendlichen Macht genommen hat, glaub mir, dann wird sie nie wieder mehr etwas anderes wollen. Sie wird nie mehr zurück wollen", raunte Morgan und blickte abwesend, fast verträumt, zu Boden. Einen Moment lang ließ er seine Worte wirken, dann schaute er wieder Georgina in die Augen und lächelte breit.

„Sie wird nicht mit dir gehen", widersprach Georgina voller Überzeugung. Dabei richtete sie sich ein Stück weiter auf. Morgan zog bei diesem Anblick die Augenbrauen hoch und betrachtete seine einstige Lebensgefährtin mitleidig.

„Du denkst, du kennst deine Tochter? Du denkst, sie sagt dir alles? Weißt du denn, dass sie sich in einen gewöhnlichen Menschen verliebt hat?"

Es traf sie wie ein Schneeball voller kleiner spitzer Steinchen direkt ins Gesicht. Georgina versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch innerlich bebte es in ihr. Nein, sie hatte in letzter Zeit weniger Gespräche mit Anela geführt. Den größten Teil ihrer Zeit hatten Andor und sie dafür verwendet, ihre Energien zu bündeln, um Morgan zu besiegen. Zum Wohl von Anela. Zum Wohl aller Magier dieser Welt.

Tief verborgen - Das Refugium | Thriller x FantasyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt