»Aber du bist doch eine Heilerkatze! Du hast doch bestimmt irgendeine Idee.«, miaute Lichttraum und versuchte, nicht bettelnd zu klingen, sondern ernst. Sie hatte ihren Schweif um die Pfoten gelegt und schaute mit durchdringendem Blick auf Tränenfeder herab, die Halbmondlicht Kräuter auf eine Wunde strich.
Die Heilerkatze zuckte mit den Ohren und seufzte leise. Da sie nichts mehr erwiderte, wurde Lichttraum unruhig und musterte ihre Schwester, die eine grosse Wunde an der Flanke hatte. »Schon wieder ein Dornbusch?«, fragte sie sarkastisch und holte so einen genervten Blick von Tränenfeder ein.
»Diese Seite kannte ich an dir noch nicht.«, schnurrte die Katze auf dem Nest im Heilerbau, die gerade verarztet wurde, zu Lichttraums Aussage. »Aber nein, das war kein Dornbusch.« Lichttraum versuchte, entspannt auszusehen, doch sie war neugierig und vielleicht auch etwas verängstigt. Diese Wunde sah aus wie von einer Katze - doch nur Halbmondlicht war verletzt. Es konnte nicht von einem Grenzgefecht kommen.
Ausserdem waren die Patrouillen noch gar nicht zurück. Halbmondlicht musste sich in der Nacht rausgeschlichen haben und mit einem Streuner gekämpft haben oder vielleicht sogar mit einer Clankatze. Oder vielleicht war es etwas ganz anderes gewesen und Lichttraum reagierte über.
»Deine Schwester braucht Ruhe.«, erklärte Tränenfeder ihr und musterte dabei ihre Patientin genau. Die Wunde sah sehr tief aus, doch Spinnweben und Kräuter, die die Kriegerin nicht kannte, schienen zu helfen.
Lichttraum trat aus dem Heilerbau, obwohl sie gerne noch einige Sachen gefragt hätte. Doch sie wollte auch nicht, dass ihre Schwester gestört wurde. Wahrscheinlich war Tränenfeder auch im Stress, in letzter Zeit wich sie der Kriegerin aus und war entweder in ihrem Bau oder in Aschensterns Bau verschwunden.
Überraschenderweise trat noch eine andere Katze aus dem Heilerbau. Lichttraum hätte einen Krieger erwartet, den sie vorher noch nicht gemerkt hatte, oder vielleicht ihre Schwester, die sich Frischbeute holte, doch es war Tränenfeder. Sie trabte zu Lichttraum her und sah besorgt aus.
Es lag jedoch noch etwas anderes in dem Blick, als sie sich zu Lichttraum in den Schatten eines jungen Baums setzte. Es war Angst. Nicht Angst um sich, nicht Angst um Lichttraum, sondern eher... Angst vor ihr. Was absurd klang. Sie waren Clangefährten, sie waren mehr als das. Sie waren Freunde. Oder Freunde gewesen.
Heute wehte der Wind und goldenes Laub tanzte mit ihm, das Lager war ruhig und friedlich, beinahe verlassen, da die Patrouillen noch unterwegs waren. Weissdistel sonnte weiter weg auf der Wiese und sah zufrieden aus. Es war ein gewöhnlicher Tag, es gab keinen Grund zur Sorge, doch trotzdem sah Tränenfeder niedergeschlagen aus und besorgt. Und verängstigt. Sie hatte Angst, sie zitterte richtig - und so, wie sie sich anspannte und den Atem anhielt, wenn Lichttraum sich leicht in ihre Richtung bewegte, erkannte man, dass sie Angst vor ihr hatte.
Doch warum?
»Willst du mir jetzt meine Fragen beantworten?«, erkundigte sich Lichttraum und klang unbeabsichtigt gereizt. Die Heilerkatze zuckte zusammen und sah sie an, als würde sie die Katze vor sich nicht kennen. »Ich würde gerne mit dir sprechen, Lichttraum. Über die Prophezeiung. Ich weiss, du denkst, ich habe Antworten auf deine Fragen, weil ich eine Heilerkatze bin.«, Tränenfeder zitterte und wirkte auf einmal klein und gebrechlich. »Aber ich glaube, ich habe keine Antworten. Ich habe noch mehr Fragen.«
Die Kriegerin beugte sich vor und versuchte den schmerzhaften Stich zu ignorieren, als Tränenfeder einen Schritt zurückwich. »Was ist dann passiert?«
Die Heilerkatze schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Es schien sie wirklich mitzunehmen. »Ich hatte eine Vision.«, erklärte sie schliesslich und sah aus, als würde sie gleich zusammenbrechen. Doch war das nicht gut? Waren Visionen nicht eher Helfer? Hinweise?
Nach einer kurzen Pause wandte sich die Heilerkätzin zu Lichttraum um und sah ihr endlich richtig in die Augen. »Ich sah dich«, flüsterte sie, »Du, wie du deine Schwester... wie du sie... du hast sie angegriffen. Du hast Halbmondlicht angegriffen und sahst aus, als würdest du sie... als würdest du ihr etwas sehr schlimmes antun wollen.«
Heute war es unglaublich heiss. Die Katzen stritten sich fast schon um die Schattenplätze unter den Bäumen, die Patrouillen waren alle erschöpft und einige sagten, sie wären sogar im Fluss baden gewesen, auch wenn die Clankatzen eigentlich nicht gerne badeten. Keine einzige Wolke zierte den coelinblauen Himmel und die Sonne sah grösser und stärker aus als sonst.
Die graue Kätzin sass unter dem selben jungen Baum, an dem sie einige Sonnenaufgänge zuvor mit Tränenfeder gesessen hatte. Diese unterhielt sich gerade mit Halbmondlicht und schien sich zu amüsieren. Lichttraum fühlte einen Stich in ihrer Brust, als sie die beiden so vertraut sah. Vertraute die Heilerkatze ihr wegen einer Vision nicht mehr? Sie waren sich doch wieder nähergekommen.
»Ich wäre auch gerne an ihrer Stelle.«, murmelte eine leise Stimme neben ihr, als hätte diese Katze ihre Gedanken gelesen. Lichttraum fuhr herum und entdeckte Zweigpfote, der verlegen von einer auf die anderen Pfote trat und den Blick gesenkt hatte. Amüsiert schnurrte die Kriegerin. Sie war sich ziemlich sicher, dass er Halbmondlicht mochte. Sie hatte ihn die letzten Tage oft mit ihr zusammen gesehen.
»Hattest du heute schon Training?«, wechselte Lichttraum das Thema und sah zu Rotkehlchenflügel, die mit Hellvogel und Dachspfote am anderen Ende des Lagers stand. »Oh«, murmelte Zweigpfote, der den Themenwechsel nicht zu gefallen schien, »naja... eigentlich wollten wir nochmals gehen. Mit Dachspfote.« Der Kater schien am Liebsten im Erdboden zu versinken. »Letztes Mal... lief es aus dem Ruder.«
Die Kriegerin konnte verstehen, dass er nicht darüber sprechen wollte. Er schien sich im Moment nicht gut mit seinem Wurfbruder zu verstehen, besonders wegen dem Training. Aber Lichttraum konnte es verstehen. Als Schülerin war sie auch oft eifersüchtig auf ihre Schwester gewesen, da sie jeder gemocht hatte und sie eine ausgezeichnete Schülerin gewesen war.
»Das wird schon«, versuchte es Lichttraum mit einer Tröstung, die unbedeutend klang, doch sie meinte es wirklich so. Sie hoffte, dass der Kater ein schönes Leben hatte. Das er sich mit allen verstand - mit seinem Bruder, mit ihrer Schwester, mit seiner Mentorin. Besonders wollte sie, dass ihm vertraut wurde.
Plötzlich wurde ihr übel, ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Ihr wurde ja nicht vertraut. Tränenfeder schien immer noch Abstand von ihr zu halten und ihr nicht zu trauen.Das Schlimmste war, Lichttraum wusste nicht, ob sie sich überhaupt selbst trauen konnte.
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Warrior Cats [Der Fluch der Sterne] Vergessene Schatten
FanfictionWenn sich der Himmel teilt, das Wetter verrücktspielt und plötzlich Katzen Füchse in Gedanken kontrollieren können, ist bestimmt nicht alles in Ordnung bei den Clans. Da ist sich Zweigpfote sicher. Zusammen mit der EisClan-Kriegerin Heideschatten, d...