15. Kapitel

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Lichttraum betrachtete eingehend ihre Pfoten. Ihre Krallen schimmerten im Mondlicht, sie waren spitz und wirkten bedrohlich. Was sie wohl alles anstellen konnten? Die Kriegerin fragte sich, zu was sie wohl fähig war. Sie konnte Katzen damit verletzen, bis sie bluteten und zusammensackten, bis sie ihre Kräfte verloren, bis sie starben. Aber wollte sie das tun?

Die Kätzin fragte sich, wie es sich anfühlte. Sie fragte sich, wie es war, in kalte, leblose Augen zu sehen, wohl wissend, das sie daran Schuld war, dass die Katze ihr Leben verloren hatte. War es vielleicht dasselbe, wie wenn sie eine Maus erlegte? Oder fühlte es sich anders an?

»Worüber denkst du nach?«, unterbrach eine leise Stimme ihre wirren, unerklärlichen Gedanken. Lichttraum drehte sich zu Tränenfeder um, die sich leise wie ein Schatten bewegte. Mit einem kleinen Abstand setzte die Heilerin sich neben sie und musterte sie eindringlich. Natürlich. Lichtfeder sass auf der Lichtung direkt vor dem Lager, und das ganz allein, mitten in der Nacht. Gewöhnlich war es nicht.

Ein Windhauch liess die beiden Katzen erschaudern. Plötzlich wurde die Stimmung unheimlicher; der Mond, der beinahe wieder ein Vollmond war, wurde von dunklen, schweren Regenwolken umrahmt und liess nur noch ein wenig Licht hindurch dringen. Lange Gräser beugten sich, der Wind verstärkte sich. Nun klang er wie ein heulender Geist, der ihnen Angst einjagen wollte.

Bevor Lichttraum die Frage beantworten konnte, stellte Tränenfeder schon eine neue: »Machst du das?« Lichttraum blinzelte überrascht und wollte die Heilerkatze schon necken, das sie nicht der SternenClan war und sie bestimmt nicht die Stimmung kontrollieren konnte, als sie sich schlagartig an das Erlebnis mit dem Fuchs erinnerte. »Rote Augen«, hatte Zweigpfote geflüstert, als sie gefragt hatte, was er alles gesehen hatte. »Rote Augen, die den Fuchs anstarrten. Er ist weggerannt. Sie denken, wegen mir. Aber... es war wegen euch. Oder wegen etwas in euch.«

Die Worte des Schülers waren wirr gewesen. Er war geschockt. Lichttraum war auch geschockt. Katzen hatten keine roten Augen, noch konnten sie einen Fuchs in Gedanken kontrollieren. Doch genau das war es, was Lichttraum getan hatte. »Versuch es einfach«, hatte Halbmondlicht ihr leise zugeflüstert, »befehlen wir ihm, was zu tun ist. Es macht Spass.«

Tränenfeders eindringliche Augen holten die Kriegerin zurück in die Gegenwart. Sie erinnerte sich an die gestellten Fragen und schüttelte sofort den Kopf. »Nein, ich kann das nicht machen. Wie auch?«, schnurrte sie und versuchte, möglichst viel Belustigung in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen.

Die Heilerin nickte wortlos. Ein zucken ihrer Ohren verriet, dass sie nicht mit Lichttraums Antwort zufrieden war. Sie wirkte misstrauisch. Ihr Schweif peitschte unruhig hin und her und ihre Haltung war abweisend und angespannt. Lichttraum musste an die Vision der Heilerkatze denken, wie sie sich vorgestellt hatte, dass Lichttraum ihre Schwester angriff. Sofort erinnerte sie sich daran, dass sie sich wieder näher gekommen waren, bevor die Vision sie wieder etwas auseinanderriss. Ein Plan nahm in dem Kopf der Kriegerin Gestalt an, wie sie ihr Vertrauen zurückgewinnen konnte.

Manchmal musste man eine Lüge so formulieren, als wäre es etwas ganz schweres und schlimmes für jemanden. Man musste stockten und verlegen tun, so, als wäre das Gesagte ein schlimmes Geständnis. Also wandte sich die Kriegerin an die hellgraue Kätzin. »Ich habe über deine Vision nachgedacht«, log Lichttraum und tat so, als wäre sie traurig. »Ich kann mir nicht vorstellen, das ich so etwas tun würde. Ich fühle mich schrecklich und hoffe jeden Tag aufs Neue, dass du zu mir kommst und mir berichtest, dass alles gut wird.«

Die Lüge hörte sich so glaubhaft an. Vielleicht, weil sie auch teils wahr war. Doch als die Heilerkatze sich dichter neben sie setzte und ihr einen mitfühlenden Blick zuwarf, während die mystische Stimmung um sie herum nachliess, fühlte Lichttraum einen Stich in der Brust. Sie fühlte sich auf einmal schrecklich. So als hätte sie einen grossen, grossen Fehler begangen.

 So als hätte sie einen grossen, grossen Fehler begangen

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Heute war es eisig kalt. Frost wickelte jedes einzelnes Grashalm ein und liess die Landschaft wie im Winter wirken. Schwarze Krähen, die auf dem grauen Himmel umherzogen und Rehe, die aus den Wäldern kamen, um etwas auf den Lichtungen zu grasen, liessen alles friedlicher wirken. Die Maus, in die Lichttraum biss, war süss und wärmte sie von Innen.

Zwischendurch flatterten die Lider der Katze und Müdigkeit überkam sie. In der Nacht hatte sie so viel nachgedacht, dass sie Schlafen keine Zeit mehr hatte. Auf der heutigen Patrouille war sie als letztes gelaufen und hatte leider nichts erbeutet. Der ganze Tag fühlte sich etwas wie ein Traum an - still und kalt und ohne jeglichen grossen Ereignisse. Ausserdem war alles wirr, so wie es in Träumen nun mal war. Sie übersprang aus Versehen mehrere Tageszeiten, weil sie einfach einschlief.

Nach der Spitzmaus fühlte sie sich nur etwas besser. Die anderen Katzen schienen davon aber nichts mitzukriegen. Halbmondlicht und Zweigpfote unterhielten sich im Schatten eines Baus, Weissdistel sprach mit Aschenstern und Tränenfeder, Rotkehlchenflügel genoss einen Spatzen mit Rosenfluch und Hellvogel und Dachspfote waren wahrscheinlich trainieren.

Vielleicht sollte die Kriegerin sich zu den Geschwistern setzen, die sich einen Spatzen teilten, oder einen Spaziergang unternehmen, eventuell etwas Jagen gehen. Doch sie war müde. Sie war unendlich müde, so müde, dass sie wahrscheinlich innert weniger Augenblicke wieder weggedriftete.

Wahrscheinlich wäre sie wirklich wieder eingeschlafen, als eine heisere, eiskalte Stimme sich in ihrem Hinterkopf meldete. Es war eine bekannte und gleichzeitig fremde Stimme, die Lichttraum jeden Gedanken an Schlaf wegnahm. Sie flüsterte immer wieder dieselben mysteriösen Worte, so oft, dass sie noch eine Weile Lichttraums Gedächtnis nachhallten.

»Sorg dafür, dass sie nicht zu tief fallen, wenn sie einschlafen. Lass sie fliegen, fliegen sollten sie, hoch zu den Sternen.«

Warrior Cats [Der Fluch der Sterne] Vergessene SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt