Abgeschickt

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Sicht: Palle

Ich saß im Zug auf dem Weg zu meinen Eltern in Richtung Hamburg und konnte einfach nicht aufhören, an Vorgestern zu denken. Ich hätte ihm alles an Ort und Stelle erzählen sollen. Jetzt würde ich ihn erstmal für einige Tage nicht sehen und ich möchte ihm gerne in Person sagen, dass ich ihn liebe und dass mir meine sexuelle Orientierung egal ist.

Ich wollte ihm das schon sagen, nachdem er mir gesagt hatte, was er an mir mag und warum meine Ex dumm sein muss, aber ich bin nur zusammengebrochen und hab angefangen zu weinen. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, aber ich wollte die Situation nicht noch unangenehmer machen als sie so schon war, also ließ ich es sein und versuchte mich zu sammeln. Später vor seiner Tür war ich dann wieder ruhig und ich hätte alles sagen können, aber ich habe es nicht. Ich weiß nicht mal selbst genau warum, aber ich schätze einfach, dass es daran lag, dass der Moment vorbei war oder ich mich selbst und das, was ich gerade sage und tue und wo genau ich überhaupt bin, viel zu sehr wahrnahm.
Egal woran es lag, ich bereute es jetzt.

Ich konnte nicht zurückfahren, denn ich hatte meinen Eltern versprochen, sie nach Monaten endlich mal wieder zu besuchen. Das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, war vor Weihnachten gewesen, denn beide waren an Weihnachten woanders gewesen. Das war das zweite Mal, dass ich ohne sie gefeiert habe. Manu hatte mich gefragt, ob ich mit ihm zu seinen Eltern kommen möchte, aber ich hatte abgesagt. Ich mag seine Eltern und ich glaube, sie mögen auch mich, aber ich wollte ihnen keine Umstände machen. Außerdem ist Weihnachten ein Fest, was man mit der Familie feiert. Zumindest habe ich das immer so empfunden.
Es wäre nur unangenehm geworden, weil ich seine Familie kaum kenne und ich mich deshalb wie eine Klette an Manu gehaftet hätte.

Mir war nach weinen zumute. Ich hatte mitten im Sommer frei bekommen und konnte es nicht mal genießen, weil ich nur daran denken konnte, wie unsicher ich bin. Mich bedrückte es und ich wollte unbedingt über den Mist reden, aber ich war alleine. Sollte ich meinen Eltern nachher von Manu erzählen? Ach, was versuch ich mir da nur einzureden! Die Frage ist nicht, ob ich das sollte, sondern eher wann sie mich so sehr ausgequetscht haben, bis sie endlich eine - wenn auch nur halbwegs - zufriedenstellende Antwort auf mein Liebesleben haben würden. Sie würden bemerken, dass ich nicht so heiter bin wie sonst. Ich sollte gar nicht erst probieren ihnen nichts zu erzählen.

Das einzig Positive ist, dass es für sie kein allzu großer Schock sein werden sollte, da beide meine Panik als Jugendlicher mitbekommen haben sollten. Meiner Mutter hatte ich sogar damals erzählt, dass ich mir nicht sicher war, was ich bin. Meinem Vater zwar nicht, aber ich kenne ihn nur als einen aufgeschlossenen Menschen, der selten laut wird.
Also wird Akzeptanz kein Problem sein. Es wird sich trotzdem seltsam anfühlen.

Seufzend holte ich mein Handy heraus und klickte auf WhatsApp. Wem schreib ich? Freddie, am besten. Rewi ist ein guter Freund, aber er würde mich fragen, was ich in einen Zug nach Hamburg mache, wenn ich mit Manu reden könnte und Zombey und maudado konnte ich schlecht anschreiben, sie kannten Manu schon so lange und was, wenn er gerade bei ihnen ist? Blieb nur noch Freddie.

„Hey, hast du Zeit? Mir ist langweilig und die Zugfahrt dauert noch ewig... -_-"

Ich wartete einige Sekunden, aber aus „zuletzt online um" wurde nicht „online", also machte ich das Handy aus und drehte mich zum Fenster. Zwei Sekunden danach bekam ich eine Antwort:

„Hey :) Klar hab ich Zeit! Ist alles okay oder hast du keine Serie für die Fahrt gefunden? xD"

Ein bisschen schmunzeln musste ich dann doch. Er kannte mich einfach. Tatsächlich hatte ich keine Serie heruntergeladen.

„Wow, das klingt ja so als würde ich die nie schreiben wenn es um etwas persönliches geht xD"
„Okay Spaß beiseite"
„Es geht um Freitag"

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