Zusammenbruch

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JESSICA POV

Gott, diese Berührungen. Wie oft hab ich mir genau diese Situation vorgestellt? Wie oft mir gewünscht, dass er genau das tut? Ich genieße es. Lasse mich an ihn fallen. Er hält mich. Aber im Moment wallen nicht nur diese positiven Gefühle in mir auf.

„Sorry, Ben. Ich kann das nicht." Es tut mir in der Seele weh, aber ich bin so wütend auf meinen Bruder. Sofort läßt Ben mich los. Er dreht mich zu sich, versucht zu ergründen, warum ich ihn abweise.

„Ich bin gerade einfach zu wütend auf Markus." Ihm müsste es doch genau so gehen.

„Wut kann man auch gut im Bett loswerden." Er lacht mich an und drückt mich feste an seine Brust. „Aber ich hab da eine Idee." Er läßt mich los, nimmt meine Hand und zieht mich mit sich. Wo will er nur hin? Kurz vor der Haustüre öffnet er die Kellertüre und bittet mich, ihm zu folgen.

Er geht vor und hält in seinem kleinen privaten Fitnessraum an. Direkt vor ihm hängt sein Boxsack. Den kenne ich bestens. Er hat ihn schon ewige Zeiten. Schon ein paar Mal hab ich ihn beobachtet, wie er darauf los gedroschen hat. Als ich bei ihm bin, greift er wieder meine Hände.

„Hier kannst Du Dich austoben. Ich lass Dich alleine, dann kannst Du alle und jeden verteufeln, wie Du willst. Niemand hört Dich hier." Er drückt mir seine Box-Handschuhe in die Hand und hilft mir noch sie anzuziehen. Dann läßt er mich wirklich alleine.
Anfangs weiß ich gar nicht, was ich da tue. Irgendwie kommt mir Ben's Idee blöd vor. Ich hab sowas noch nie gemacht. Ich halte mich mit Laufen und meiner morgendlichen Yogarunde fit. ‚Fokussier Dich', sage ich mir. Markus erscheint vor meinem inneren Auge. Was um Himmels Willen hab ich ihm getan? Warum hat er uns offensichtlich belogen? Es ist wahrscheinlich naiv zu denken, dass er seinem Freund nur hätte erzählen müssen, dass ich total auf ihn abfahre und dann wäre alles gut geworden. Aber er hat ganz bewusst uns beide so manipuliert, dass wir dachten, der jeweils andere sieht nicht mehr als Bruder, bzw. Schwester im anderen. Letztlich hat er dafür gesorgt, dass Ben und ich nicht glücklich geworden sind. Er hat uns 23 Jahre unseres Lebens gestohlen.

Je öfter ich zuschlage, um so mehr tritt die Wut nach vorne. Markus kann froh sein, dass er nicht der ist, der hier vor mir steht. Immer mehr Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Ich bin wütend und enttäuscht. Irgendwann verschwindet Markus und ich sehe Christian. Die abgeflauten Gefühle werden wieder intensiver. Wochenlang nun schon versuche ich mich zusammen zu nehmen und all die Empfindungen zu unterdrücken. Doch jetzt kann ich nicht mehr. Die Schläge auf den Boxsack werden wieder mehr und ich versuche es auch mal mit einem Tritt. Dabei falle ich auf den Boden und dann ist es vorbei. Ich breche zusammen. Immer mehr Tränen laufen und ich kann es nicht verhindern. Auf dem Boden kauere ich mich wie ein Embryo zusammen. Versuche mich auf diese Weise zusammen zu halten.

Plötzlich spüre ich Hände, die mich umfassen.

BEN POV

Ein Bild liegt vor mir, dass ich mein Leben nicht mehr vergessen werden. Jessica liegt auf dem Boden, eingerollt und sie weint, schluchzt und wimmert. Sie ist völlig am Ende. Ich setze mich auf den Boden und ziehe sie in meine Arme.

„Schhhh. Es wird alles gut, das verspreche ich Dir." Vorsichtig streiche ich mit meinen Fingern über ihren Rücken. Diese Nähe macht mich fast verrückt. Ich empfinde so verdammt viel für diese Frau, dass ich schon wieder hart werde. Aber ich muss jetzt für sie da sein. Die Wut über die verlorenen Jahre, die Wut auf ihren Ehemann, die Wut auf ihren Bruder, Wut und Enttäuschung sind gerade über ihr zusammengebrochen.

Eine ganze Weile sitzen wir so da. Ich hab ihr die Handschuhe ausgezogen und sie auf die Liege im Ruhebereich gebracht. Sie sitzt auf meinem Schoß und ich streichle sie weiter ganz zärtlich. Gut dass ich in der Klinik angerufen habe. Meinen Nachtdienst heute wird ein Kollege übernehmen. Ich bin gespannt, wann ihre Mutter hier auftaucht. Für Markus kann ich nur hoffen, dass er hier wegbleibt. Gerade weiß ich nicht, was ich mit ihm machen soll.

Langsam hat Jessica sich beruhigt. Sie bewegt sich und macht sich aus meiner Umarmung frei. Gar nicht ladylike wischt sie sich die Tränen mit ihrem Unterarm aus dem Gesicht.

„Danke." haucht sie.

Ich kann nicht anders. Vorsichtig nehme ich ihr Kinn in meine Hand. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit bis sich endlich unsere Lippen berühren. Nach 23 Jahren, darf ich sie endlich schmecken. Und ich würde so gerne noch mehr machen. Aber mir ist klar, dass ich sie damit überfordere. Oben im Wohnzimmer hat sie mich abgewiesen. Das war ziemlich niederschmetternd. Aber sie hatte Recht. Wenn ich sie endlich zu MEINER FRAU mache, dann soll sie es genießen. Was hat der Kerl nur gemacht? Sie kennt Orgasmen nur aus der Theorie? Das...irgendwie wäre es ja dann...der Gedanke gefällt mir.

„Worauf hast Du Lust? Ich muss heute nicht arbeiten. Wir können irgendwo hinfahren." Ich sehe in ihr erstauntes Gesicht und dann sehe ich ein kleines Lächeln.

„Lass uns rauf fahren zur Hütte." Ich weiß sofort, wo sie hin will.

„Sollen wir über Nacht bleiben?" Sie denkt kurz nach und nickt.

„Ich will aber nicht rüber. Die sollen mal sehen, wie sie ohne mich zurecht kommen."
Wieder treten Tränen in ihre Augen und ich ziehe sie wieder an mich. „Hey. Deine Eltern können doch nichts dafür."

„Das denkst Du. Sie haben es gewusst. Mama hat immer wieder gegen Dich gewettert. Sie meinte: ‚Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm'." Ich weiß, was sie meint. Mein Vater war kein Musterexemplar eines Ehemanns. Treue war für ihn nur ein Wort. Für meinen Frauenverschleiß hat er mich nie gerügt. Im Gegenteil: Er fand es gut. Das heftigste was mir diesbezüglich mal mit ihm passiert ist, kann ich immer noch nicht ganz fassen: Er besuchte mich in Berlin anläßlich einer Architekturmesse. Damals war Franziska hinter mir her. Wir hatten eine Nacht zusammen und die war auch nicht ganz schlecht. Aber wie ja schon erwähnt: ich hatte kein Interesse an was Festem. Was sie aber nicht davon abhielt immer wieder bei mir aufzukreuzen. So auch an diesem Tag. So lernte sie meinen Vater kennen. Am nächsten Tag hab ich die Beiden in meinem Bett erwischt. Auch so ein Bild, dass sich auf ewig in mein Hirn gebrannt hat. Welches Kind sieht schon gerne ein Elternteil beim Sex.

Haben sie Recht? Werde ich dass hinbekommen? Treue? JA! JA! Denn ey, das ist Jess. Die Frau, die ich seit so langer Zeit will. Das werde ich mir bestimmt nicht versauen.

„Gib mir kurz Deinen Schlüssel. Ich hol Dir drüben was Du brauchst. Einverstanden?"

„Bring mir eine Jeans mit und ein Shirt und Kosmetik aus dem Bad. Nur das nötigste."

Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie gar nichts braucht. Denn wenn es nach mir geht, dann ...aber ich sollte nicht so weit denken.

„Würdest Du ein paar Sachen zum Essen zusammen suchen. Im Kellerraum steht eine Kühlbox. Wir könnten zusammen kochen."

„Gute Idee. Mach ich. Darf ich was aus Deinem Weinkeller nehmen?"

„Nimm den Mallorquiner. Den magst Du doch so gerne."

„Mach ich."

Es dauert keine halbe Stunde bis wir abfahrtbereit sind. Wir nehmen Jessicas Wagen, der hat Allrad und wird uns sicher auf die Hütte bringen.

Weitere 90 Minuten später sind wir im Walsertal angekommen. Hier besitzen unsere Familien eine Berghütte. Sie liegt auf 1600 Meter in einem wunderschönen Tal mit einem wahnsinnig schönen Blick. Rund um die Hütte kann man im Winter toll Ski fahren. Wenn man nicht mit dem Auto fahren will, dann führt eine schöne 2stündige Wanderung aus Riezlern hier her.

Die Hütte hab ich das letzte Mal vor über einem Jahr besucht. Hier gibt es einen Wohnraum mit einer kleinen Küchenzeile, Eßtisch für 8 Personen und einer gemütlichen Sitzecke mit Ecksofa und Sessel. Für die 8 Personen gibt es drei Schlafzimmer. Zwei mit je einem Kingsize Bett 1,60 breit und ein Zimmer mit zwei Stockbetten. Als wir Kinder waren, haben wir oft Freunde mit hier herauf genommen. Später, während des Studiums, war ich auch mindestens einmal im Jahr hier. Aber noch nie war ich alleine mit einer Frau hier.

Von Jessica weiß ich, dass sie sehr oft mit Aimée hier oben war. Die beiden lieben die Berge. Christian hat sie eher selten begleitet. Er brauchte im Urlaub ein gewisses Maß an Luxus. Und wahrscheinlich hat er die Nächte, die Jess hier war, damit verbracht, irgendwelche Kerle zu ficken. Und sein feiner Freund Jens hat ihn gedeckt. Ich bin mir sicher, wenn er vor mir steht, dann verpasse ich ihm eine.

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