Kapitel XVI

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Bedächtig bewegte ich meinen Kopf aus seiner Richtung und marschierte dann an ihm vorbei. Im Türrahmen blieb ich noch stehen, drehte mich aber nicht um. „Ich verzeihe dir.", hauchte ich. Dann wartete ich kurz ab, ging aber als mir klar wurde, dass natürlich nichts kommen würde. Ich schaffte es, ihm zu verzeihen, aber nur, weil ich mir in diesem Moment so sicher war, ich würde ihn nie mehr sehen müssen.

Ohne weitere Zwischenfälle verließ ich das alte Haus und spürte schon den Schmerz in mir. Nie hätte ich erwartet, Michael wiederzusehen. Und doch hat uns das Schicksal wieder zueinander geführt. War das ein Zeichen? Wieso wollte Michael wieder nach Haddonfield? Welchen Grund gab es schon für ihn, wieder nach Hause zu kommen?

2. November 1978 ...

Das Packen am nächsten Mittag fiel mir schwerer als erwartet. In mir schrie ich. Ich schrie, dass ich nicht zurück nach New Jersey wollte, ich schrie, dass ich nicht hier in Haddonfield bleiben wollte. Nichts fühlte sich in irgendeiner Weise noch richtig für mich an.

Mit dem Packen hörte ich nicht auf, bis mir Doktor Loomis ins Gedächtnis sprang. Er wollte wissen, was da zwischen mir und Michael war ... das wollte ich nicht. Aber ihm musste ja so wie mir irgendetwas aufgefallen sein, dass er mir solche Fragen stellte. Alles, was ich mich fragte: Warum behandelte er mich so anders als die anderen und weshalb schien er so versöhnlich zu sein? Natürlich war mir seine Verschwiegenheit bekannt. Er konnte reden, nur er wollte nicht. Er würde nicht reden, nicht einmal für mich.

Ich hatte am Morgen mit Lynn telefoniert. Sie erklärte mir, am nächsten Tag wäre sie da und dann könne ich heim. Ich erzählte ihr, dass ich mich freute, aber ich empfand kein Bisschen Freude. Mir stand meine allerletzte Nacht hier bevor – für immer. Wahrscheinlich hätte ich das in irgendeiner Weise feiern müssen, zum Beispiel indem ich mich betrank und mit lautem, schrillen Gesang die Nachbarn verärgerte. Mir war aber nicht nach solchem Mist. Mir war nach Weinen zumute.

Es vergingen ein paar Stunden und alle paar Sekunden erwischte ich mich dabei, wie ich meine Gedanken in Richtung Michael Myers lenkte. Schlechte Idee. Sehr schlechte Idee.

Entnervt sprang ich auf und marschierte in die Küche, um im Kühlschrank nach Essen zu suchen, welches ich hinterher doch nicht essen kann, da mir beim Gedanken an Michael schlecht wird.

Ein Blick nach draußen verriet mir, dass so langsam wieder Ruhe auf Haddonfields Straßen einkehrte. Wie ich diese Ruhe hasste.

Ich verweilte für einen Moment am Fenster und starte raus. Aus dem Nichts zog sich eine Gänsehaut über meine Arme, welche ich daraufhin rieb. Ich hatte ein ungutes Gefühl, die allmählich ausbreitende Stille draußen, aber trotzdem fühlte ich mich nicht allein. Ich vergeudete wohl unzählige kostbare Minuten meines Lebens, als ich gedankenverloren hinaus starrte. Minuten, mit denen ich ohnehin nichts anderes anzufangen wusste.

Wie ich Abende verabscheute. Tagsüber fühlte ich mich nicht so stark einsam wie an Abenden. Die Nächte waren wieder erträglicher, die Dunkelheit hatte die Menschen dann bereits verzerrt und zugleich neue Hoffnung geschenkt. Abende hingegen, wenn es langsam dunkel und ruhig wurde, wenn man nervöser wurde ... ich verabscheute es.

Taumelnd bewegte ich mich zur Küchenanrichte und stützte mich mit beiden Armen darauf ab. Automatisch fiel mein Blick auf den Messerblock vor mir. Eines der Messer fehlte. Michael, dachte ich sofort – wurde dann aber enttäuscht, als ich das Messer in der Spüle liegen sah. Hatte ganz vergessen, es zu spülen.

Mit der eigentlichen Intention, es sauber zu machen, griff ich es und hielt es vor mich. Nichts tat ich, außer es anzusehen. Michael hätte dieses Küchenmesser vermutlich mit Kusshand angenommen.

Menschen, die niemand vermissen würde, wenn sie weg wären", fiel mir der Satz ein, den ich vergangene Nacht Michael an den Kopf geworfen hatte. „Was, wenn ...?", dachte ich mir wie in Trance und hielt mir das Messer an meinen linken Unterarm, ich platzierte es genau auf meinen Adern. „Wenn sie weg wären"

Mir wurde schwindelig und heiß zugleich, doch ich wusste mir in diesem Moment nicht anders zu helfen.

Der erste Schnitt wurde von meiner zittrigen Hand etwas abgedämpft, also folgte gleich der nächste Schnitt, auf exakt der gleichen Stelle. Tränen bildeten sich in meinen Augen, während das erste Blut herausquoll. Das Rot hatte solch einen schönen Ton heute; nicht zu hell, nicht zu dunkel.

Sofort durchzog mein Arm dieser Schmerz, welcher sich so befreiend anfühlte, obwohl er mich alles andere als frei machte. Jedes beschissene Mal das Gleiche.

Immer mehr blutende Striche sammeln sich neben bereits verheilten Narben. Ich brauchte die Kontrolle über mich zurück, schon lange. Es war noch nie ein Hilfeschrei gewesen. 

 Ich schluckte immer und immer wieder, während ich mich nicht dazu bringen konnte, die Klinge von meinem Arm zu bewegen.

Langsam gaben meine Knie nach und ich sackte zu Boden.

Ich bekam dieses Gefühl, auf das ich die ganze Zeit wartete einfach nicht. Das Gefühl, welches mir sagte, für jetzt sei es okay, wir hätten es vorerst geschafft. Also ging ich einen Schritt weiter und platzierte das Messer nun direkt auf meinem Handgelenk, die Pulsadern im Ziel.

Ohne noch einmal Luft zu holen, drückte ich die Klinge ganz fest auf die Haut und schnitt so schnell ich konnte zu, bis ich mehr Rot als alles andere sah. Ich bereute nicht, was ich getan hatte, ich bemühte mich nicht, die extreme Blutung zu stoppen. Ich ließ die Schwärze samt der Schmerzen mich überkommen. Mir wurde so unfassbar schlecht. Ich fühlte mich so erbärmlich, natürlich würde keinen mein Tod interessieren. Aber starb ich jetzt?

Ich spürte nur noch, wie mein Kopf auf dem harten Boden aufkam, aber es tat plötzlich nichts mehr weh. Ich interessierte mich für nichts mehr, auch nicht für das laute Scheppern, welches von der Hintertür des Hauses kam. Ich schloss meine Augen, hörte Schritte ... aber es war mir alles gleichgültig. Irgendwie schlich sich noch ein Lächeln auf mein Gesicht, bis ich dann von allem befreit war und nichts mehr mitbekam. Keinen eigenen Kram, keine Fremdeinwirkungen – nichts war noch da. Nur ich und die schmerzlose Schwärze.

Ich dachte, ich hätte der Welt einen Gefallen getan, ich dachte, es gäbe nun einen überflüssigen Menschen auf der Welt weniger. Ob mein Plan wirklich aufging war ungewiss, also gab es nur eine einzige Möglichkeit: es auszuprobieren. Und hier war ich.

The Night He Came Home [Michael Myers FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt