1953 | Der Anfang

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Nevada, USA.

»Buh!«, ein Totenkopf flog seitlich auf Mary zu. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und sie schrak nach hinten. Ihre Schwester hatte sich hinterrücks angeschlichen und hielt ihr kichernd den Metallschädel vor das Gesicht.

»Anne«, beschwerte sie sich und schob ein Kochbuch aus Vorkriegszeiten zurück in das Regal, »das ist nicht witzig. Du weißt, dass ich diese Dinger hasse.«

»Oh, Mary. Jetzt sei doch nicht so.« Die Ältere zog einen Schmollmund und stellte den Horrorkopf auf eine Kommode zu bronzenen Kerzenhaltern, Brieföffnern in Schwertform, winzigen Schatztruhen und anderem auf mittelalterlich getrimmten Dekogegenständen zurück.

Anne war mit sechsundzwanzig nur zwei Jahre älter als sie, aber ihren schelmischen Humor hatte sie seit Kindheitstagen nicht abgelegt. Lang und dürr überragte ihre Schwester die meisten Männer um einen halben Kopf. Ihre strohigen blonden Haare und der Überbiss machten es ihr ebenfalls nicht einfacher, die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts zu erregen.

Sie selbst war das genaue Gegenteil. Als hätte Gott sich bei der Geburt einen Scherz erlaubt: ruhig, eher schüchtern, leicht gedrungen gebaut, kastanienbraune, schulterlang gelockte Haare. Aber dafür mit einem ebenmäßigen Antlitz gesegnet – und inzwischen mit ihrem zukünftigen Ehemann John seit drei Monaten verlobt.

Ein »Antiquariat« nannte sich dieses Geschäft am Rande von Las Vegas, der nächstgrößeren Stadt kaum zwei Stunden Autofahrt von ihrem Zuhause in Crystal Springs. Aus ihrer Sicht war es jedoch eher ein Trödelhändler. Die meisten Bücher und Ausstellungsstücke waren alter Tand, den man auf jedem Flohmarkt finden konnte. Nur doppelt so teuer. Leider hatte sich ihre Schwester in den Kopf gesetzt, genau hier ein originelles Weihnachtsgeschenk für John zu erstehen.

»Mary!« Anne stupste sie an die Schulter. »Hier. Was hältst du davon?«

Die Ältere hielt ihr ein abgegriffenes, in abgewetztes Leder eingebundenes Buch entgegen, das von einer braunen Schnur zusammengehalten wurde. Es machte den Eindruck, als wäre es bereits durch tausend Hände gegangen und von Gutenberg persönlich gebunden worden.

»Ich weiß nicht. Meinst du, das ist ein passendes Geschenk für John?«, fragte sie zweifelnd und nahm das Büchlein entgegen. »Steht nichts drauf und sieht tatsächlich alt aus. Was ist das für ein Buch?«

»Keine Ahnung. Los, schau halt rein!«

Umständlich öffnete Mary das Bändchen und klappte die ersten Seiten auf. Sie waren unbeschrieben. Genau wie alle nachfolgenden. Ein sehr stabil gebundenes, alt wirkendes, komplett leeres Notiz- oder Tagebuch, wie es schien.

»Hm ... ein Notizbuch«, antwortete sie nachdenklich und wog es abschätzend. »Aber warum nicht, er hat ja auch so eine hellbraune abgetragene Aktentasche, für die ich ihm keine neue schenken darf. Angeblich ein Erbstück seines Vaters.« Sie konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen.

»Na, das ist doch perfekt!« Anne klatschte in die Hände. »Nimmst du es? Ja?«

Alles war besser als weitere Stunden in diesem Trödelladen zu verbringen, daher stimmte Mary zu, zahlte den erwartungsgemäß vollkommen überzogenen Preis und steckte es in ihre Handtasche. Vermutlich sollte sie nachher noch eine Krawatte und ein Paar Socken für John kaufen. Ohne Anne. Nur zur Sicherheit.

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»Bis später, Schatz«, verabschiedete sie sich von John, der sie nur mit einer säuerlichen Miene bedachte.

Mit einem letzten Blick in den Spiegel rückte sie ihre Locken zurecht. Rote, aber nicht zu rote Lippen, leichtes Make-up, dicker Wintermantel, Handschuhe, Hut. Es passte ihrem Verlobten nicht, dass sie Arbeiten ging. Allerdings hatten sie noch keine Kinder und das Geld konnten sie definitiv gebrauchen. In der Ein-Schlafraum-Wohnung mit der billigen Einrichtung, wollte sie keinesfalls eine Familie großziehen.

Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt