1966 | Der wahre Schatz

131 23 90
                                    

Deutschland.

Für die Fußballweltmeisterschaft reiste das deutsche Team nach England, obwohl die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die sogenannten Bombennächte, noch in aller Köpfe waren. England schaffte es, Deutschland in der Verlängerung zu besiegen und wurde zum ersten Mal Weltmeister.

Aber all das interessierte Hannes nicht. Er war ein acht Jahre alter Junge, der mit seinen beiden älteren Brüdern und den Eltern in einem idyllischen Dorf in Süddeutschland wohnte. Hannes ging lieber an die frische Luft, anstatt sich vor den Fernseher zu hocken. Er verstand nicht, wieso man stundenlang zweiundzwanzig Männern zuschauen sollte, die sich um einen Ball stritten.

Bereits den vierten Tag in Folge war er mit seinen beiden Brüdern, Michel und Jörg unterwegs zu der Ruine des alten Wachturms. Dieser thronte außerhalb ihres Heimatdorfes auf einem kleinen Hügel. Fast erschien er Hannes wie ein stummer Wächter über die Zeit. Es waren die ersten offiziellen Sommerferien des Jungen und es fühlte sich für ihn etwas anders an, als die Sommer davor. Irgendwie aufregender. Der kernige Duft von Sonnenblumen und lauwarmem Sommerregen lag in der flirrenden Luft. Und es schien, etwas Sentimentales lauerte in Hannes' Herz, vergraben zwischen der Freude und kindlichen Leichtigkeit, die er in sich trug.

Hannes' Mutter war Hausfrau. Der Vater Mathematiker.

Michel war der erste der drei Brüder, der im September nach den großen Ferien aufs Gymnasium wechselte. Er war es auch, der in die Fußstapfen des Vaters treten sollte.

Ein wenig Angst hatte Hannes schon davor. Bestimmt änderte sich dann alles zwischen ihm und seinen Brüdern. Neben dem neuen Lernpensum, das Michel erwartete, blieb wahrscheinlich kaum noch Zeit, um miteinander zu spielen und zu toben. Er war zwar der Jüngste und trotzdem nicht auf den Kopf gefallen.

Achtlos ließ Hannes sein Fahrrad auf die Wiese fallen, die rings um den Wachturm wuchs. Seine Füße sprangen mit einer Leichtigkeit über die Grashalme, die sich jeder seiner Bewegungen anpassten. Sie streiften die Gänseblümchen, die in voller Pracht blühten und ihre weißgelben Köpfe sehnsüchtig zur Sonne reckten. Fröhliches Kinderlachen verlieh der tristen Kulisse, die Hannes vor sich sah, etwas Magisches. Seine sturmgrauen Augen huschten über die Steine der Ruine, wanderten das Efeu empor, das sich zwischen den Mauern einen Weg erklettert hatte und dem alten Gemäuer etwas Märchenhaftes verlieh. Schließlich hafteten sich Hannes' Augen auf die Überreste der alten Steintreppe, die in den oberen Teil der Ruine führte. An vielen Stellen war der Stein abgeschlagen und die oberste Stufe war komplett zerstört. Das Unkraut wuchs an jeder freien Stelle, und dort oben, in stetiger Einsamkeit gedieh ein kleiner Baum, dessen Samen wohl der Wind dort hingetragen hatte. Er würde wohl nie so kräftig sein, wie seine Brüder im Wald. Hannes kletterte die Überreste der Treppe nach oben. Beinahe rutschte er auf dem glatten Stein der einzelnen Stufen aus. Die betroffene Stelle an seinem rechten Knie begann aber nicht zu bluten. Es zeigte sich lediglich eine kleine Schürfung. Der Junge konnte trotzdem nicht leugnen, dass sein Herz in seiner Brust wild trommelte. Oben angekommen, machte Hannes eine kurze Verschnaufpause, ehe er sich neugierig umschaute. Vor seinem inneren Auge sah er unzählige Wachmänner, die ihre langen Speere in die Öffnungen drückten. Überall um ihn herum hektisches Durcheinander und laute Schreie, die die Nacht, die nur von dem Schein der Fackeln erleuchtet wurde, durchbrachen.

Hannes streckte sich etwas und schaute durch eine der schmalen Öffnungen. Dabei strichen seine kleinen Finger über die Steine neben ihm. Es war angenehm, da die Wand relativ kühl war, ein schöner Kontrast zu der schwülen Mittagshitze die draußen brütete. Plötzlich hielt er inne. Einer der Steine fehlte und da war ein kleiner ... Hohlraum. Mit bloßem Auge hätte Hannes das nie erkannt. Zittrig schnappte er tief nach Luft. Obwohl ihm ganz und gar nicht kalt war, fröstelte er nun etwas. Eine Gänsehaut zierte seine Arme, die Härchen reckten sich gleichmäßig in die Höhe. Der modrige Geruch in der Luft drang plötzlich in all seine Poren. Leichte Übelkeit überkam ihn.

Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt