1989 | Blitze über Leipzig

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Ostberlin.

Etwas lag in der Luft. 1989 neigte sich dem Ende zu, doch es schien, als würde das Jahr den Drehzahlmesser noch einmal richtig in die Höhe jagen wollen. Ein dunkler blau-grauer Theatervorhang zog sich seit Wochen, fast zeitgleich mit dem meteorologischen Herbstanfang, über das lustige Sommerblau des Himmels und versprach Gewitter und Hagelstürme über dem Osten Deutschlands.

»Freiheit!«

Der Montag war im Kalender rot eingekringelt und fest reserviert für die Straße. Schilder und Fäuste wurden in den stahlharten Herbsthimmel gereckt, die fordernden Stimmen rollten wie ein grollender Donner durch Leipzig. Zwar hatten die Demos schon Anfang September begonnen, doch Jennys knallrot gefärbter und kinnlang geschnittener Bob strömte erst ein paar Wochen durch die bunt gemischte Woge an Menschen. Genau seitdem final feststand, dass sie ihren Studienplatz zum dritten Semester verlieren würde. Das System brauchte qualifizierte Lehrkräfte, ja, aber nicht solche, die das falsche Gedankengut hatten.

Ihre beste Freundin aus Schulzeiten, Carla, hatte es sicher schon geschafft. Über Prag hatte sie Westdeutschland erreichen wollen. Bis zum letzten Tag war nicht klar gewesen, ob das mit den gefälschten Pässen klappen würde und dann ging doch alles Knall auf Fall. Jenny hatte gewusst, dass sie den messerscharfen Sarkasmus ihrer besten Freundin und den mysteriösen Hauch von bergfrischem Aftershave auf ihren bobonbunten Häkeltops vermissen würde, noch bevor Carla ein einziges Wort über ihre Pläne gesagt hatte.

Wer wusste schon, ob sie nicht gerade in Nürnberg bei ihrer Tante saß und sich die Demo im Fernseher ansah? Ob sie dort überhaupt ausgestrahlt werden würde? Ereignishungrige Kameralinsen blitzten hier und da durch die Menge wie neugierige Erdmännchen, aber ein Kamerateam hatte Jenny noch nicht bemerkt. Ihre Gedanken schweiften ab, denn immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie neiderfüllt an Carla dachte. Damit tat sie ihrer besten Freundin Unrecht, denn immerhin war es ein unendlicher Vertrauensbeweis gewesen, dass diese ihr überhaupt von den waghalsigen Plänen erzählt hatte. Über den Westen zu sprechen konnte gefährlich werden. Aber wie sollte man denn nicht gelb werden bei dem Gedanken an ein freieres Leben?

»Freiheit!«

Mit wutgeschwängertem Eifer stimmte Jenny in das Poltern der Gruppe ein. Ihr ganzer Zorn, das taube Gefühl der Handlungsohnmacht, das alles legte sie in ihre Stimme und brüllte die Worte in den verhangenen Oktoberhimmel. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde man endlich aufstehen, nachdem man stundenlang in einer unbequemen Position verharrt hatte. Es kribbelte, als das Gefühl wieder in die eingeschlafenen Beine kam und das Blut wieder normal zirkulieren konnte. Und es waren viele Menschen, die sich aus ihrer gelenkeverrenkenden Knebelposition erhoben. Hier war alles vertreten, von groß bis klein, von alt bis jung. Alle gingen auf die Straße für die Freiheit, der ein brillentragender Staatsratsvorsitzender ein Verfallsdatum aufgeklebt hatte.

Letzte Woche hatte die junge Frau einen in Beige- und Brauntönen gemusterten Strickpullover im rauschenden Strom des Demozugs erspäht. Es war ihr ehemaliger Erdkundelehrer, der unermüdlich »Weg mit der Mauer« gerufen und ein passend beschriftetes Schild von der Größe einer Tischplatte in die Höhe gestreckt hatte. Mit sorgenverklebter Ehrfurcht hatte sie daran gedacht, dass er eine Familie hatte. Einen Sohn im Grundschulalter, soweit sie wusste. Und ihre Gedanken waren weitergeflossen ... Wenn er ihr Vater wäre ... Ihr eigener hockte zu Hause, wenn er nicht gerade in seinem Büro unter dem Bildnis des selig lächelnden Brillenträgers mit dem sich zurückziehenden Haaransatz saß und Jenny konnte es ihm nicht verdenken.

Offen zu reden war schwierig, wenn man nicht wusste, wer alles ein Inoffizieller Mitarbeiter, ein heimlich lauschender IM, war. Das Gerücht hatte die Runde gemacht, dass Papas Cousine im Auftrag der Stasi die Familie ausgehorcht hatte. Sonntagsanrufe unter dem Vorwand, dass man sich nach dem Wohlergehen der Familie erkundigen wollte. Möglich wäre es, denn irgendwie musste die Info über Jennys unerwünschte Gesinnung ja durchgesickert sein. Bestätigt hatte niemand etwas, aber der Verdacht lag ziemlich nahe. Jedes Mal, wenn Jenny darüber nachdachte, kochte die Wut in ihr hoch. Es hing zwar der dicke Nebel des Vielleicht über der ganzen Sache, aber der Argwohn hatte die Seelen vergiftet.

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