Page, Arizona.
Seit Tagen kletterte das Thermometer über die einhundert Grad Marke, der laue Wind fühlte sich an wie ein Heißluftgebläse; am Himmel entdeckte sie nichts als das langweilige Azur, das an Intensität abnahm, je mehr sie den Blick zum flimmernden Horizont hin senkte. Kleine Schweißperlen folgten der Schwerkraft über ihren Hals bis zum Saum ihres grünen Tanktops, wo sie aufgesogen wurden und die Farbe des Stoffes verdunkelten.
Izzy war müde. Müde von der Warterei, müde vom Fußmarsch, müde von der drückenden Hitze, die am Straßenrand durch den Asphalt noch verstärkt wurde. Der Highway 89 nach Süden war früher zu dieser Jahreszeit jeweils von Touristen stark befahren gewesen, sodass es am Stadtrand von Page regelmäßig zu Verkehrsstaus gekommen war, doch das war früher. Nun, während der Erdölkrise, lag die breite Straße grau und leer vor ihr, zu beiden Seiten eroberte die Natur sich ihr Terrain zurück, der Belag war aufgerissen und spärliches Gras wuchs hervor.
Die Siebzehnjährige klaubte ein T-Shirt aus ihrem Rucksack und band es sich als Kopfbedeckung um. Ihr langes, schwarzes Haar verstaute sie dabei unter dem Shirt, damit der Nacken frei wurde und trocknen konnte. Seit vielen Stunden wartete Izzy nun auf einen Bus, der vielleicht nie kommen würde. Diesel war knapp, viele Buslinien mussten bereits eingestellt werden, doch insgeheim hoffte sie, die wichtige Verbindung nach Flagstaff würde noch bedient.
War es vielleicht doch keine so gute Idee, von zu Hause auszubüxen? Andererseits: Was konnte die ›Homebase‹, wie Vater das Zuhause immer nannte, ihr noch bieten? Der Vater war ständig betrunken, seit er kein Benzin mehr verkaufen und dadurch die Raten für die Werkstatt nicht mehr bezahlen konnte. Die Mutter verdiente mit ihrem Tankstellenshop auch nichts mehr, weil die Touristen ausblieben. An Studium war mitten im Nirgendwo nicht mehr zu denken. Da schien der Weg an die Küste, dorthin wo es noch Leben gab, die einzig sinnvolle Alternative zu ›Toni's Gas-Heaven‹ zu sein. ›Benzinhimmel‹ - wäre die Situation nicht derart traurig, könnte Izzy über den Namen von Vaters Werkstatt lachen.
Auf einmal konnte sie ein Motorengeräusch hören; einen Diesel, denn Izzy kannte sich mit Motoren aus. Tatsächlich näherte sich ein Greyhound, der wie ein außerirdisches, grau glänzendes Ungetüm langsam über die Ebene kroch, auf der Suche nach Futter, gefährlich knurrend. Doch das Mädchen freute sich, der Sound des mächtigen Motors klang wie Musik in ihren Ohren. Sie schnappte sich ihren Rucksack, stellte sich an den Straßenrand und begann zu winken. Der Bus stoppte, die Tür schwang auf. Ein schwitzender, dunkelhäutiger Mann in fleckiger Uniform grinste ihr entgegen.
»Na, junge Dame, wo soll es denn hingehen?«
»Fahren Sie bis Los Angeles?«, fragte Izzy, bereits ahnend, dass ihre Frage verneint werden würde.
Der Mann hörte auf zu lächeln. »Nein. Fernfahrten sind nicht mehr. Nur bis Flagstaff, leider, ... wenn der Sprit reicht.« Die letzten Worte murmelte er bloß noch.
»Flagstaff ist schon mal gut.« Izzy bezahlte den Fahrer und drängte sich durch die Sitzreihen nach hinten. Außer ihr saßen bloß noch vier weitere Fahrgäste im Bus. Ein Touristenpaar mit mächtigen Rucksäcken, eine alte Frau und ein junger Kerl im Anzug, kaum älter als sie selbst, der eine Aktentasche neben sich auf den Sitz gestellt hatte. Izzy setzte sich ganz nach hinten und machte es sich auf der durchgehenden Sitzreihe bequem. Der Bus ruckelte los.
Draußen vor den Fenstern zog die rötliche Landschaft der Canyonlands vorbei. Touristenmagnet, wie Vater den Südwesten der USA zu nennen pflegte, bevor der Whiskey aus Kentucky seine Zunge zu lähmen begann und seine Hirnzellen vernebelte. Izzy vermisste die Stunden in der Werkstatt mit ihrem Vater; sie vermisste das Schrauben an den alten Schmuckstücken aus den Fünfzigern, aus einer Zeit, wo das Benzin noch wenige Cent für eine Gallone gekostet hatte. Das orange Signet mit der blauen 76 drauf erinnerte an jene Zeit, in welcher Benzin, ganz ähnlich wie Grundnahrungsmittel, im Überfluss vorhanden gewesen war. Heute kletterten die Preise täglich höher, Privatpersonen durften sich nur eine begrenzte Menge Benzin kaufen und der motorisierte öffentliche Verkehr war, sehr zur Freude der Bahnlinien, eingeschränkt.
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Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️
Random[Anthologie] Tauche ein in die geheimnisvolle Welt dieses abgegriffenen, nutzlosen Büchleins, das die Jahrhunderte durchreist. Seine Reise beginnt 1953 in der Nähe der geheimnisumwitterten Area 51 und führt es durch tausend Hände, Zeiten und Schicks...