2012 | Spuren des Überlebens

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Es war einer der letzten schönen Tage in diesem Jahr. Die Sonne hatte den Hochnebel, der manchmal ihre Heimatstadt förmlich belagerte, vertrieben. Gleichzeitig es war noch immer warm genug, damit Erika und ihre Enkel keine Jacke in der Herbstsonne brauchten. Einige Quellwolken zogen gemächlich über ihre Köpfe hinweg und eine laue Brise kam auf, sie strich ihr durch ihre grauen Haare. Die meisten Blätter an den Bäumen rund um den Spielplatz hatten sich bereits orange und rot verfärbt. Sie leuchtet in der Sonne, während der Wind für einen Augenblick drehte und aus der Richtung der Berge kam. Ein kalter, fast eisiger, Luftzug strich um ihre Schulter. Bald wäre nun auch der Herbst vorbei. Die graue Zeit, in der zeitweilig das Gefühl aufkam, als würde es ewig so trist bleiben, würde kommen. Aber bis dahin war noch Zeit; noch war das Jahr nicht zu Ende. Sie schlenderte an der Seite des Spielplatzes entlang, auf der Suche nach einer Bank im Schatten. Sie behielt ihre Enkel stets gerne im Blick, während sie rutschten und schaukelten.

Beide waren in etwa gleich alt, wobei Lilly – ihre Große – ein halbes Jahr älter war. Sie hatten wie ihre Väter blonde Haare und ähnelten einander manchmal wie Geschwister. Erika war immer froh, wenn sie ihre Enkel um sich herum hatte, denn sie hielten sie jung. Am Vormittag beschäftigten sich die beiden oft selbst miteinander, wodurch Erika einen Teil der Hausarbeit machen und das Mittagessen vorbereiten konnte. Wenn anschließend alles erledigt war, spielten sie noch eine oder zwei Partien eines Brettspiels, ehe sie aßen. Am Nachmittag ging es dann ab und zu auf einen Spielplatz oder sie machten nur einen Spaziergang, wobei Lilly und Yannik langsam zu groß dafür wurden und keinen Gefallen mehr daran fanden.

Aber Spiele gingen immer und das galt auch für sie. Das würden sie sich hoffentlich noch lange erhalten. Sie selbst hatte mit ihrem Mann Karl schon unzählige Runden Rommé hinter sich gebracht, wobei sie zum Schluss auch hin und wieder ganz gerne auf Backgammon zurückgegriffen hatten, denn Karl hatte einfach nicht mehr so viele Karten halten können. Seitdem er gestorben war, mussten ihre Freundinnen herhalten, allerdings stellten sie normalerweise keine würdigen Gegner für Erika dar. Wahrscheinlich hatte das etwas mit ihrer Mutter zu tun, die niemals still herumsitzen wollte und immer irgendetwas zu tun haben musste, aber eigentlich war es auch egal, oder?

»Oma!«, rief Lilly. »Oma, schau, wie weit ich springen kann!«

Erika drehte den Kopf und sah, dass ihre Enkelin auf der Schaukel saß, auf der sie wild vor und zurück schwang. Sie sprang genau am höchsten Punkt und flog im hohen Bogen durch die Luft. Als sie schließlich im Sand landete, lachte Lilly stolz. Das erste Mal, als Erika ihr dabei zugesehen hatte, wäre ihr das Herz fasst in die Hose gerutscht, mittlerweile war es für sie jedoch alltäglich. Ihre Enkel wurden mit jedem Jahr etwas wilder. Erika war einiges gewohnt.

»Jetzt ich!«, rief Yannik und seine blonden Haare wirbelten durch die Luft. Schnell schwang er sich in die Höhe, vor und zurück und stieg immer rasanter empor. Dann wagte auch er den Absprung und landete ein Stück vor Lilly. Sie stapfte herüber und begutachtete die Spuren. Ihre Hände stemmte sie an ihre Hüften.

»Wie hast du das gemacht? Du warst doch nie und nimmer so hoch wie ich! Du hast doch geschummelt!«

»Wie soll ich geschummelt haben?«

»Kann doch gar nicht sein, dass du weiter springst! Du bist doch viel kleiner!«

Yannik blinzelte und sah seine größere Cousine verständnislos an, ehe er mit den Schultern zuckte und sagte: »Ich hatte eben Glück.«

»Du hast immer Glück«, antwortete Lilly und rollte mit den Augen. Da musste Erika ihrer Enkelin recht geben. Sie wusste nicht wie, Yannik schien es jedoch wirklich oft gepachtet zu haben. Vielleicht kam es ihnen auch nur so vor, aber bei Uno bekam er oft die besten Karten, jeder zweite Kniffel schien von Yannik geworfen zu werden und wenn sie Rommé spielten, gelang es ihrem Enkel oft die wenigsten Punkte zu haben. Manchmal erinnerte er sie an ihren lieben Karl. Auch der hatte ein Händchen für Spiele gehabt, auch wenn er etwas analytischer an die Sache heranging und nicht, wie Erika einfach intuitiv entschied, was sie als Nächstes tun würde.

Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt