Der Wald, den sie, schon seit gefühlt Stunden, durchquerten, roch nach Fichten und Erde, während der Wanderweg immer schmaler wurde. Nur manchmal konnte man einen Blick durch das Blätterdach werfen, aber dann sah man, dass sich die Wolken immer stärker zusammenzogen und es dunkel am Horizont war. Donner grollte hinter ihnen in den Bergen.
»Ich glaube nicht, dass wir das noch rechtzeitig schaffen«, sagte Yannik und presste seine Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Er schnaubte genervt auf. Sein großer Wanderrucksack wurde bei jedem Schritt schwerer. Schon jetzt klebte ihm sein Shirt wie eine zweite Haut am Körper. Auch seine Cousine Lilly sah ziemlich erschöpft aus. Vielleicht war es insgesamt keine gute Idee gewesen, nicht den direkten Weg zu nehmen. Sie hatten stattdessen eine kleine Bergwanderung unternommen, um dann gleich im richtigen Tal für ihren Heimweg zu sein. Jetzt mussten sie nur noch den Bus nach Sonnfelsen nehmen, falls denn überhaupt noch einer fuhr.
»Okay, bleib mal kurz stehen«, antwortete Lilly. Sie vermied, es ihm in den Augen zu sehen, um sich nicht weiter von ihm provozieren zu lassen. Sie nahm ihren etwas kleineren Rucksack von den Schultern und begann ihn halb auszuräumen. »Mal sehen ...«, murmelte sie und zog eine Thermodecke, zwei Brotdosen, eine Wasserflasche und einen Apfel hervor, ehe sie ihre Hand ganz hineinstecken konnte und am Boden herumzuwühlen schien.
Über ihnen grollte es noch einmal, diesmal näher und lauter. Direkt über ihren Köpfen schob sich eine fast dunkelblaue Wolke. Yannik schluckte. Bei dem Gedanken, in einem Unwetter mitten im Wald zu stecken, wurde ihm ganz mulmig zumute. Besonders nachdem erst vor ein paar Wochen ihre Heimatstadt Sonnfelsen von einem Sommersturm überrascht worden war und es zwischenzeitlich, wie ein Kriegsschauplatz gewirkt hatte. Dächer waren abgedeckt worden, Fenster durchschlagen und manche Autos hatten ihn an Coladosen erinnert, die man mit der Hand zusammengedrückt hatte.
Er wollte gerade den Kopf wieder zu seiner Cousine drehen, als er etwas in seinem Augenwinkel wahrnahm. Es war klein und hatte die Farbe von altem Leder. Während Lilly weiter ihren Rucksack durchwühlte, näherte er sich seinem Fund. Als er schließlich davorstand, sah er ein kleines Notizbuch, das in ledernen Einband mit einer Schnur zusammengebunden war. Er nahm es in die Hand und spürte mehr Gewicht, als er erwartet hatte.
»Ah, hab ich dich!« Lilly klang triumphierend. Geistesabwesend steckte er es in seinen Rucksack und sah zu seiner Cousine. Sie zog gerade ihre Hand wieder aus ihrer Tasche hervor und brachte eine Karte zum Vorschein. Die einzige Möglichkeit, sich hier draußen zu orientieren, denn ihre Handys hatten, seit sie Mittwoch Nachmittag angekommen waren, keinen Empfang mehr.
Beide hatten sie sich sehr auf diesen kleinen Urlaub gefreut. Nur sie, eine kleine Bergwanderung – vielleicht ein Kaiserschmarrn auf einer Bergalm, ganz so, wie sie es früher immer mit ihrer Großmutter gemacht hatten. Dazu ein paar Tage in der abgelegenen Berghütte. Einfach nur die Natur, Ruhe und Erholung. Ein kleiner Reset, den sie beide jetzt einfach nötig hatten.
Lilly faltete die Karte auf und fing an, sie zu studieren, während sie mit ihrem Finger darüberfuhr und hin und wieder etwas murmelte. Yannik überließ es ihr, denn sie war eindeutig besser in diesen Dingen als er. Sie zögerte, strich eine ihrer blonden Strähnen zurück hinter ihr Ohr und sah ihn einen Moment besorgt an. Lilly hatte blaue Augen, eine kleine Nase und schön geformte Wangenknochen, ehe ihr Kinn etwas spitzer als seines zulief. Er selbst hatte dieselben blonden Haare, die lagen bei ihnen in der Familie, aber er hatte braune Augen und ein Grübchen am Kinn. Als er ihr in die Augen sah, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter und er biss sich auf die Unterlippe.
»So schlimm?«, fragte er und Lilly nickte.
»Flipp‹ bitte nicht gleich aus, ja?«, sagte sie und fuhr dann mit ihrem Finger einen Weg nach. »Von hier sind wir gekommen und haben dann bei dieser Abzweigung den Weg genommen ...«
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Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️
Aléatoire[Anthologie] Tauche ein in die geheimnisvolle Welt dieses abgegriffenen, nutzlosen Büchleins, das die Jahrhunderte durchreist. Seine Reise beginnt 1953 in der Nähe der geheimnisumwitterten Area 51 und führt es durch tausend Hände, Zeiten und Schicks...