2000 | Vergessen - Lost in L.A.

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Los Angeles, USA.

Hitze flimmerte vor den Fenstern und nur das stete Surren der widerspenstig arbeitenden Klimaanlage hielt sie davon ab, auch innerhalb des Gebäudes einzufallen. Es war beinahe kühl zwischen den Büchern und die Bibliothekarin hatte sich sogar einen Schal um die Schultern gelegt, während sie durch die Regalreihen schritt.

Studenten buckelten konzentriert über aufgeschlagenen Wälzern. Stifte kratzten stetig Notizen auf bereitgelegte Blöcke, irgendwo erhob sich hin und wieder gemurmeltes Geflüster und manchmal rumpelten ein leises Husten oder tappende Schritte durch die gedämpfte Stille. Da erschien es fast wie ein lautes Brüllen, als ein Mann keuchend durch die weite Flügeltür hereinstolperte und hektisch die Reihen entlang ging, um sich wie ein krachender Eindringling zwischen die Regale zu schieben.

Er blieb stehen zwischen den Grundlagen der Quantenmechanik und einer Einführung in die Relativitätstheorie. Allerdings schien er weder besonders interessiert an Physik noch an Büchern zu sein. Zwar zog er tatsächlich ein paar heraus, jedoch nur, um durch den Spalt zu spähen und die Nase an den Lektüren vorbeizudrücken. Dabei zupfte er wiederholt an der Baseballcap mit dem Logo der L.A. Dodgers und versuchte sich mit dem übergroßen, nicht weniger touristischen »I Love Los Angeles« T-Shirt über die schwer verschwitzte Stirn zu wischen.

Ein strenges Räuspern nahe neben ihm, ließ ihn zusammenzucken und herumfahren. In seinen Händen noch immer eines der Bücher. Sein Daumen direkt auf der Nase eines Albert-Einstein-Porträts.

»Dies hier ist eine Bibliothek, Mister. Kein Obdachlosenasyl«, fauchte die Bibliothekarin streng nasal mit abschätzendem Blick auf seine verschmutzt verschwitzte Gestalt in wirr übergeworfenen Klamotten. Sie flüsterte und doch konnte man meinen, ihre Stimme würde sich erheben wie ein donnerndes Gewitter.

Hektisch drückte er das Buch wieder zurück und blinzelte irritiert auf die kleine faltige Frau herab, die einen vollgeladenen Bücherwagen vor sich schob wie einen kampfbereiten Rammbock.

»Ich... Ja ich... ich weiß...«, stammelte er unerwartet eingeschüchtert und hob die Hände in die Höhe wie zur Verteidigung.

»Unmöglich ist das!«, schimpfte die alte Frau weiter. Da der sehr viel größere Mann nur in hilfloser Verwirrtheit zu ihr sah, wurde sie mutiger und wütender. Ihr kleiner scheppernder Wagen bewegte sich auf ihn zu und ließ ihn die Regalreihen weiter zurückweichen. »Nur herumlungern, ohne etwas zu lesen. Oder sogar auf die Idee kommen, die Bücher als Kopfkissen zu verwenden. Bücher haben Respekt verdient! Respekt! Verstanden!«

»Wirklich, ich hatte nicht vor irgendetwas zu tun. Ich wollte nur...« Er stockte und erinnerte sich wohl plötzlich wieder an die Paranoia, die ihm eben noch im Nacken gesessen hatte. Erneut drehte er sich hektisch um, wie auf der Suche nach Verfolgern. Seine neue Gegenspielerin verengte die Augen dadurch nur noch deutlicher im Misstrauen. Allerdings auch, da das zornige Schnauben ihre Brille tiefer auf ihrer langen Nase hatte rutschen lassen, und sie nun über den Rand hinweg zu ihm aufblicken musste. Sie führte ihren ganz eigenen kleinen Krieg und war fest entschlossen diese Schlacht hier zu gewinnen. Ganz gleich ob ihr Feind nun ahnte, in was er hineingeraten war oder nicht.

»Dann nehmen Sie jetzt ein Buch oder nicht?«, schnauzte sie.

»Verdammt nochmal, was soll...« Er presste die Lippen zusammen, um weiteres Fluchen zu unterdrücken. Dann griff er wahllos in eines der Regale und zog ein kleines Buch hervor. Ohne es genauer anzusehen, schwenkte er es durch die Luft und meinte: »Genau das hier habe ich gesucht. Sehen Sie? Also ich gehe jetzt... Lesen! Buchstaben und... Worte und so!«

Damit ging er über zur Flucht. Hinter ihm hörte er noch das geflüsterte Brüllen: »Mit Respekt!«, ehe er zwischen ein paar weiteren Regalen verschwand und sich auf die Suche nach einem neuen Rückzugsort machte.

Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt