Suzie Flinton war eine bescheidene junge Frau Mitte zwanzig, die ihre Jugendliebe Kent früh geheiratet und nach der Schule einen Job in der nahegelegenen Konditorei angenommen hatte. »Wie gut, dass du dem Süßen nicht so verfallen bist, wie ich«, witzelte ihre Chefin, und inzwischen auch enge Freundin, Claire, wie so oft. Besonders wenn sie Suzie wie heute in einem luftigen Sommerkleid sah, das ihren schmalen Körper betonte. Dass Suzie an einer besonderen Stelle ihres Körpers gerne mehr Rundungen gehabt hätte, sprach die besonnene Frau in diesem Moment besser nicht an. Dies waren nicht die Zeit und der Augenblick, um über ihre Sorgen nachzudenken. Dieser Tag gehörte jemandem anderen, der nur wenige Schritte weiter auf der hinteren Terrasse des stattlichen Anwesens im Schatten des großen alten Kirschbaumes saß und diesen sonnigen Tag im Mai in vollen Zügen genoss.
Das glückliche Ehepaar, das der Grund für Suzies Besuch auf dieser Feierlichkeit war, saß am Tischende und nahm immer noch Glückwünsche der zahlreichen Gäste entgegen. Gerade schüttelte der Pastor die Hand ihrer Großmutter. Er hatte sie und ihren Opa vor über fünfzig Jahren selbst getraut. Mit seinen fast achtzig Jahren war er nicht mehr der Jüngste und eine so lange Ehe hatte selbst er in seiner beträchtlichen Laufbahn selten erlebt.
Suzie lächelte glücklich. Die Ehe ihrer Großeltern hatte sie schon immer demütig gestimmt. Es war für sie weiß Gott nicht leicht gewesen, mit sieben Kindern und nunmehr zwölf Enkeln und Enkelinnen. Suzie war die zweitälteste von ihnen und hatte sich schon früh vorgenommen, die erste zu sein, die ihrer Lieblingsoma Urenkel schenkte. Doch der Wunsch, der schon seit vielen Jahren in ihr schlummerte und mit jedem Jahr größer wurde, blieb ihr leider verwehrt. Inzwischen waren sowohl ihre jüngere Schwester als auch ihr jüngerer Cousin ihr zuvorgekommen und wiegten ihre beiden Neffen liebevoll auf ihren Armen. Gedankenverloren legte Suzie ihre Hand auf die Gürtellinie ihres kirschroten Sommerkleides, dass sie extra für diesen besonderen Anlass der Goldenen Hochzeit gekauft hatte. Vielleicht würde sie eines Tages doch noch den zweiten Strich auf einem Teststreifen entdecken. »Komm Schatz, sie sind gerade frei!« Suzie spürte die vertraute Hand ihres Mannes auf ihrer nackten Schulter und nickte. Gemeinsam ging sie mit Kent zu ihren Großeltern und spürte schon beim Näherkommen den liebevollen Blick ihrer Oma auf sich.
»Suzie, wie gut, dass du da bist! Du musst mich retten!« Die alte Frau grinste verschwörerisch und stand vom Tisch auf. Bestimmt nahm sie den Arm der jungen Frau und raunte ihrem Mann zu: »Wir müssen mal wohin.«
Suzies Großvater lächelte und wies seinen Schwiegersohn an, sich auf den Platz seiner Braut zu setzen. Schnell waren die beiden Männer in eine Unterhaltung über Opas Modelleisenbahn vertieft.
Suzies Oma zog unterdessen ihre Enkelin quer über den Rasen zu dem alten Haus, das die Großeltern schon besessen hatten, als Suzie sich das erste Mal alleine die Schnürsenkel ihrer Schuhe auf den Treppen des stattlichen Herrenhauses gebunden hatte. Ihre Oma hatte sich viel Zeit genommen, um ihr diesen kniffligen Vorgang mit viel Geduld zu erklären, und war mindestens genauso stolz gewesen wie Suzie, als sie es am Ende der Ferien endlich allein geschafft hatte. »Oma, wo willst du denn so eilig hin?«, fragte Suzie, als die alte Frau sie wider Erwarten nicht zu den Toilettenräumen zog, sondern weiter in das angenehm kühl temperierte Haus, bis in das Arbeitszimmer ihres Großvaters. Ehrfürchtig beobachtete Suzie, wie ihre Oma die Tür noch immer geheimnisvoll schweigend schloss und nach ein paar Handgriffen einen Tresor hinter einem alten Gemälde offenbarte. »Meine liebste Suzie«, sagte ihre Großmutter, nachdem sie den Tresor geöffnet und fast liebevoll ein altes Buch daraus hervorgeholt hatte. »Du hast mich vorhin in der Kirche gefragt, was das Geheimnis unserer langen Ehe und unserer bedingungslosen Liebe ist«, sagte sie beinahe feierlich. Suzie nickte nur, nicht wissend, was ihre Großmutter ihr eigentlich sagen wollte. »Nun, meine Liebe, ich könnte dir nun erzählen, dass dein Opa und ich uns bedingungslos vertrauen. Dass wir einander respektieren und einander den Rücken stärken. Dass wir auch nach all den Jahren unserer Ehe tiefe und aufrichtige Liebe füreinander empfinden. Aber um ehrlich zu sein«, sagte sie und strich mit der freien Hand andächtig über den hellbraunen Ledereinband des in die Jahre gekommenen Buches, das nach Suzies erster Einschätzung vielleicht ein Notizbuch oder Tagebuch sein könnte. »Um ganz ehrlich zu sein«, wiederholte sie fast schon traurig, »glaube ich nicht, dass dies alles war, was mir dieses wundervolle Leben mit deinem Großvater ermöglicht hat. Suzie verstand nicht sofort, was ihre Oma ihr sagen wollte, doch sie spürte, dass es ein Geheimnis sein musste, das ihre Großmutter ihr nach all den Jahren anvertrauen wollte. »Was genau möchtest du mir damit sagen, Oma?«, fragte sie und legte liebevoll ihre Hand auf die Schulter ihrer Großmutter. Sie schien immer noch halb versunken in ihrem Blick auf das Büchlein in ihren Händen. »Suzie«, flüsterte sie fast, »ich werde dir nun eine fantastische Geschichte erzählen. Ob du sie glaubst oder nicht, ist dir überlassen, aber glaube mir: Ich weiß, was ich erlebt habe.«
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Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️
Altele[Anthologie] Tauche ein in die geheimnisvolle Welt dieses abgegriffenen, nutzlosen Büchleins, das die Jahrhunderte durchreist. Seine Reise beginnt 1953 in der Nähe der geheimnisumwitterten Area 51 und führt es durch tausend Hände, Zeiten und Schicks...