1992 | Fiktion oder Realität?

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New York, USA.

Der Regen preschte gegen die beschlagenen Fensterscheiben. Thais lag auf ihrem Bett und starrte regungslos auf die Regentropfen, die immer und immer wieder gegen das Glas prallten. Sie ignorierte die Geräusche um sich herum, indem sie altmodische Kopfhörer im Ohr trug. Ihre Pflegeeltern stritten mal wieder.

Mit Intelligenz gesegnet und dennoch so dumm, dachte sie und drückte die Seitentaste auf ihrem zersprungenen Display.

Heutzutage brauchte man keine Handys und Kopfhörer mehr. Aber Thais liebte das altmodische, antike Zeug. Und ausgerechnet heute war für sie ein schrecklicher Tag, das wusste jeder, der mindestens drei Sätze mit der jungen Frau gesprochen hatte.

Die Regierung wollte heute die letzte Erinnerung der alten Zeit abreißen.

Thais löste sich aus ihrer Trance und rollte sich von ihrem Bett. Sie schnappte sich ihren Rucksack, schulterte diesen und öffnete leise die Tür ihres Schlafzimmers.

Die Worte ihrer Eltern kamen gedämpft und gleichzeitig glasklar hoch.

»So kann es nicht weitergehen! Sie wird nichts machen! Sie wird im Zimmer versauern! Sie sollte der Regierung dienen gehen!«, fuhr ihre Mutter ihren Vater an.

Dieser schwieg für einen Moment, ehe seine Stimme nun etwas ruhiger über seine Lippen kam, so als ob er bemerkt hatte, dass seine Tochter lauschte. »Gebe ihr Zeit. Sie ist jung. Sie will sich erfinden und ausleben!«

»In dieser Gesellschaft gibt es kein Finden und Ausleben! Wir können froh sein, dass wir nicht tot sind!!«

Thais schloss ihre Augen.

Wäre die Menschheit damals ausgestorben, gäbe es die jetzigen Probleme nicht mehr. Wir wären keine Parasiten. In einem goldenen Käfig.

Sie öffnete ihre Augen wieder und setzte einen Fuß nach vorne. Leise schritt sie die Treppe hinunter, schnappte sich ihre Jacke und verschwand in dem aufkommenden Sturm.

Sie versteckte ihre braunen Haare unter ihrer Kapuze und zog sich diese automatisch tiefer ins Gesicht. Die Reklametafeln glühten hinterhältig in der Dunkelheit, vereinzelt hörte man die Autos in der Ferne über den Asphalt rauschen. Ihr Blick glitt über die modernen, hohen Glashäuser. Mittlerweile abgenutzt, doch vor nicht allzu langer Zeit waren es die modernsten Häuser gewesen, welche Sicherheit boten. Sicherheit vor Naturkatastrophen und gierigen Menschen. Dabei hatten bislang doch nur die gierigen Menschen überlebt und die anständigen waren zu Mutternatur geworden.

Thais lief über den nassen Boden entlang, registrierte aus dem Augenwinkel verschwommene Lichter, die zu den umliegenden Häusern und Gärten gehörten. Durch ihre Kopfhörer konnte sie nun das Rauschen der Roboter in den Innenräumen wahrnehmen, da diese automatisch ein Störsignal bei ihr verursachten. Grimmig verzog sie ihr Gesicht und zog sich die Geräte schließlich vom Kopf. Die Geräusche vom Regen, von lachenden Menschen, von surrenden Robotern, hupenden Autos, alles stürzte auf ihr Gehör ein.

Sie hasste diese klaren Geräusche. Mit verzogenen Augenbrauen rannte sie nun los. Darauf bedacht, nicht auszurutschen, hüpfte sie über den Pfützen. Ihr Atmen fing an, kleine Wölkchen zu bilden, die stoßweise über ihre Lippen kamen. Es war einfach kalt draußen.

»Eine Sache. Nur eine Sache, die mich an früher erinnern soll... Ich brauche nur eine Sache«, sagte sie keuchend zu sich. Sich selbst laut reden hören, das ließ sie mittlerweile nicht mehr verrückt werden.

Dunkel erinnerte sie sich an ihr erstes Leben zurück.

Die Menschheit kam mit den Nachwirkungen der Corona-Pandemie noch immer nicht zurecht, auch wenn diese schon seit sechs Jahren zurücklag. Naturkatastrophen stürzten über die Kontinente und Thais erinnerte sich zu gut an den Tag, an dem sie vor dem Fenster saß und Chips gegessen hatte. Ein abgeranzter, sahniger Geschmack. Ihr Bruder stritt mit ihrer Schwester. Ihre Mutter war im Krankenhaus arbeiten.

Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt