Alpen.
»Komm schon«, forderte Leah Jonah leicht genervt auf, in er Hoffnung, dass er zu ihr aufschließen würde. Schließlich wollte sie nicht ewig durch den stetig höher werdenden Schnee stapfen. Und noch weniger mochte sie länger hier auf ihn warten, bis sie womöglich noch darin versinken konnten. Ein leichtes Flimmern spielte sich vor ihren Augen ab, was sie gekonnt ignorierte. Es galt, sich fortzubewegen, bevor ihre Gliedmaßen mit Sicherheit durchgefroren sein würden. Gleichzeitig wusste sie, dass es nichts brachte, wenn sie ihn drängte. So wie immer.
Dennoch – und weil sie alsbald zum Ziel gelangen wollte –, streckte sie ihren eisigen linken Arm nach ihm aus. Doch er kam dem nicht nach, seine Hand landete nicht in ihrer. Er reagierte nicht einmal darauf. So wie immer. Nach wie vor stand er an Ort und Stelle und starrte auf den Boden. »Bitte Joni«, sprach sie ihn nun mit seinem Lieblingsspitznamen an, derweil sie ihre Finger wieder schützend in die Manteltaschen gleiten ließ. Aber auch das nützte nichts. Sein Blick klebte an der weißen Masse, die überall um sie herum war.
Obwohl sie sich vor längerer Zeit – um genau zu sein vor einundfünfzig Tagen, als sie stolze zwölf Jahre alt wurde – schwor, nicht mehr klein beizugeben, so konnte sie nicht anders. So wie immer. Zwar bewunderte sie Joni dafür, dass er mit seinen jungen acht Jahren scheinbar nicht zu frieren schien, doch sie wiederum hörte bereits ihre eigenen Zähne aufeinander klappern.
Mit jedem Schritt, den sie auf ihn zuging, kam ihr eine ungewöhnliche Wärme entgegen, die sie begierig annahm und in der sie sich gedanklich einhüllte. Anstatt Joni endlich von dem Platz wegzuziehen, zog etwas anderes sie unwillkürlich in den Bann. Ein Blitzen – eins der sanften Natur und lediglich für einen Sekundenbruchteil zu erhaschen – machte sie auf einen verschütteten Gegenstand aufmerksam. Nur Jonah vermochte es, ungeborgene Schätze zu aufzuspüren.
Jetzt, da sie bei ihm stand, schenkte er ihr seine Aufmerksamkeit, indem er breit lächelte oder sie gar verschmitzt angrinste. Die Mundwinkel trafen auf die Ränder seiner orangenen Mütze, an der auf jeder Seite eine Bommel herunterhing. Sein Gesicht – voller Wärme – strahlte sie an. Es brauchte keine Worte von ihm, damit sie verstand, was er sich wünschte. So wie immer.
Widerwillig zog sie ihre Hände aus der wärmeren Umgebung des Mantels heraus, um sie in die beißende Kälte zu senken. Als sie sich gerade hocken wollte, wurde ihr schummrig. Leah hielt die Luft an. Das gedämpfte Gefühl wurde durch ein Zwicken abgelöst. Es bohrte sich in ihr Herz hinein. Von dort aus jagten ihren gesamten Körper entlang stachelige Impulse, als hätte sie unzählige winzige Eiskristalle in sich aufgenommen, bis sie wieder am Ursprungspunkt ankamen. Sie rieb sich über die Brust und ließ die angestaute Luft aus ihrer Lunge.
Eilig überprüfte sie ihren eigenen Körper, ob noch alles dran; ob sie noch ganz war und schaute dann hektisch zu Joni. Als wartete er darauf, sah er sie mit leicht schief gelegten Kopf und großen Augen an. Es schien, als hätte er es ebenso gefühlt. Leah zupfte ihren Wollschal zurecht, um der Situation zu entkommen. So wie immer.
Nach einer kurzen Weile, in der sie mit sich haderte, bückte sich Leah, um den Gegenstand aus dem Schnee zu befreien. Immerhin gibt es doch noch ein – wenn auch sehr verspätetes – Weihnachtsgeschenk, dachte sie sich dabei. Ein wahrlich schönes. Ehrfurchtsvoll ließ sie ihre schmalen Finger über das braune Leder gleiten. Sie nahm die Spuren, die auf diesem hinterlassen wurden, genaustens wahr, als könnte sie dadurch die Geschichte hinter jeder einzelnen herausfinden. So wie sie es immer machte.
Ohne hineingeschaut zu haben, beschloss sie, es nun in die Hände seines neuen Besitzers zu legen. Ihrem Herz wurde dabei ein weiterer Stich versetzt. Gerade als sie sich davon lossagen und es Joni überreichen wollte – oder vielmehr konnte –, hielt er sofort eine Hand zur Abwehr hoch. Ein Gemisch aus verschiedenen Gefühlen strömte in sie hinein. Freude, weil sie es weiter in ihren eigenen Händen halten durfte, aber auch Trauer ... Und da war noch mehr. Verzweiflung?
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Das Nutzlose Büchlein - Ein Buch reist um die Welt und durch die Zeit ✔️
Random[Anthologie] Tauche ein in die geheimnisvolle Welt dieses abgegriffenen, nutzlosen Büchleins, das die Jahrhunderte durchreist. Seine Reise beginnt 1953 in der Nähe der geheimnisumwitterten Area 51 und führt es durch tausend Hände, Zeiten und Schicks...