A R A Z
Alter 10
»Wo ist dein nutzloser Bruder?«, knurrt mich mein Onkel an. Ich zucke bei dem Geräusch seiner lauten Stimme auf, und antworte stotternd: »I-ich weiß es nicht.«, »Dann geh ihn sofort suchen!«, kommt er mir nun näher und packt mich am Kragen.
Verzweifelt versuche ich, nach Luft zu schnappen, bis er mich plötzlich loslässt, sodass ich auf den harten Boden falle. Ich blicke ängstlich nach oben zu ihm herauf, in seine vor Wut kochenden braunen Augen, als ich abrupt aufstehe, um mich auf den Weg zu den Treppen zu machen.
Eilig renne ich die Treppen mit meinen nackten Füßen, welche man auf den Boden klatschen hört, die Treppen hoch, bevor ich vor Ismail's Zimmer stehe. Außer Atem öffne ich rapide die Tür und sehe ihn kurz danach auf seinem Bett sitzen. Kaum bin ich in sein Zimmer eingetreten, sieht er mich sofort alamiert an.
»Was will er?«, fragt mich mein Bruder streng, so als weiß er schon, worum es geht. »E-er will, d-dass du runter zu ihm kommst.«, stammel ich vor mich hin. »Warum?«, klingt er nun etwas wütender. »I-ich weiß nicht.«, sage ich so leise, dass es fast wie ein Flüstern rüberkommt, und blicke verzweifelt auf den Boden, bis ich ihn von seinem Bett aufstehen höre und er auf mich zu geht. Er ist über einen Kopf größer als ich, was mich noch mehr einschüchtert, wenn ich zu ihm hinauf blicke.
Er seufzt gereizt, bevor er an mir vorbei geht und ich ihn hitzig die Treppe runter stampfen höre. Kaum sind einige Sekunden vergangen, geht das Geschreie zwischen Ismail und meinem Onkel schon los.
Schnell laufe ich in mein Zimmer und schließe die Tür. Ich springe schnellstmöglich auf mein Bett und halte mir ein Kissen über den Kopf, um
dem lauten Gebrüll zu entkommen, doch - wie immer bemerke ich schnell, dass dies nicht viel nützt, da das Gebrüll der beiden, das einzige ist, was ich in diesem Moment höre, und egal, wie sehr ich es verdrängen will — ich kann mich einfach an nichts anderes konzentrieren, als auf das laute Geplärre, welches sich durch das ganze Haus verteilt. Ich habe erst gar nicht wahrgenommen, dass mir Tränen die Wangen runterlaufen, bis ich mir vor Verzweiflung das Kissen vom Gesicht entferne und versuche das Geschreie meines Onkels und meines Bruders zu verdrängen und einzuschlafen.Ich erwache plötzlich aufgrund eines lauten Geräusches aus meinem Schlaf. Es klang wie eine zerbrochene Glasscherbe. Ich setze mich abrupt auf meinem Bett auf, als ich jemanden die Treppe hochkommen höre, und in diesem Moment weiß ich ganz genau, wer da gerade die Treppe hochstürmt.
Eine Welle voll Panik überschlägt mich und ich will hier schnellst möglich einfach nur weg, doch es gibt keinen Ausweg. Wenn ich in meinem Zimmer auf dem Bett bleiben würde, würde mein Onkel mich sofort ertappen und mir die Hölle heiß machen. Wenn ich jedoch versuche aus meinem Zimme zu fliehen, würde er es sofort bemerken, denn ich wäre nicht schnell genug, um noch rechtzeitig ins Bad zu verschwinden und die Tür abzuschließen, also würde das die ganze Situation nur noch verschlimmern und es wird grausamer enden, als sonst. Also bleibt mir nur noch eins übrig.
Ich blicke hinüber zu meinem Schrank, welcher ein paar Zentimeter von meinem Bett entfernt steht. Erst zögere ich, da es nicht das erste mal wäre, dass ich mich im Schrank verstecke und er mich somit schnell finden würde, doch als ich die lauten Schritte meines Onkels immer näher kommen höre, denke ich nicht weiter nach und eile sofort in den Schrank hinein und schließe langsam die Tür.
Ich setze mich ruhig hin, und halte mir die Hand vor dem Mund, in Hoffnung dass so kein einziger Laut meine Lippen verlässt. Ich schließe vor Angst zitternd meine Augen, sodass es nun komplett dunkel um mich herum wird, als es schon sowieso in diesem engen Schrank ist. Ruckartig höre ich wie die Tür mit einem Schwung aufgeschlagen wird, was mich kurz aufzucken lässt. Ich höre Schritte. Sie kommen langsam immer näher. Sie kommen näher. Und näher. Und näher. Bis sie schließlich kurz stoppen und nichts mehr zu hören ist.
Was passiert nun? Ist mein Onkel verschwunden? Langsam öffne ich wieder meine Augen, doch kaum ist das passiert, wird die Tür zu meinem Schrank schlagartig von jemandem aufgerissen. Ich schrecke mit einem Laut auf, als mein Onkel mit vor Wut funkenden Augen näher kommt, mich am Kragen packt und —
Alter 16
Ich blase langsam eine Rauchwolke aus, während ich versuche von dieser fatalen Erinnerung abzukommen. Als ich an einem Bürgersteig sitze und meine ausgenutzte Zigarette am Boden abstreife, bemerke ich, dass bald die Sonne wieder aufgehen würde. Ich blicke hinaus in die Ferne, und stelle mir vor, dass die Zeit zurück gedreht wird. Ich denke daran, wie es war, bevor Ismail und ich dazu gezwungen waren, bei unserem Onkel einzuziehen.
Ich denke an die schönen Momente die ich mit meinem Bruder hatte — an das ganze Gelächter. An die unvergesslichen Sonnenaufgänge, welche wir immer wieder gemeinsam betrachteten — denn an diese erinnere ich mich gerne, da das die schönste Zeit in meinem Leben war. Der Moment ist einfach immer so perfekt gewesen. Doch innerlich glaube ich, dass der wahre Grund, warum ich mich gerne zurück an die Sonnenuntergänge erinnere ist, weil es die Zeit vor Ismails unerwarteter Ablehnung mir gegenüber ist.
Aber selbst wenn ich dafür Ismail verloren habe, bereue ich meine Entscheidung keines Falls. Ich lebe lieber für den Rest meines Lebens auf der Straße mit irgendwelchen Junkies, als wieder bei diesem Sadistischen Mann leben zu müssen. Ich habe inzwischen — auch wenn es schmerzt, gelernt wie ich mit der Aktion von Ismail, welche sich vor etwa vier Jahren ereignet hat umgehe. Aber selbst wenn - die Schuldgefühle plagen mich bis heute noch immer, doch nun kann ich sowieso nichts mehr dran ändern und muss es einfach hinnehmen. Jeden Tag frage ich mich aufs Neue, ob vielleicht alles anders gelaufen wäre, wenn die Umstände sich nicht so drastisch gewendet hätten.
Wäre ich glücklich mit meinen Eltern und meinem Bruder leben können, und hätte ich die Möglichkeit dazu gehabt, unter normalen Verhältnissen aufwachsen zu können? Hätte ich ein besseres Vorbild als meinen Onkel gehabt, um zu einem anständigen und respektvollen Mann heranwachsen zu können? Würde mein Bruder mich immer noch als seinen besten Freund sehen und mich nicht mehr so verachten? Hätte ich die Qualen meines gewaltätigen Onkels nie ertragen müssen? Wären wir eine normale Familie sein können? Wäre mein Glauben an die Menschheit und vorallem an mich selbst nicht so zu Grunde gegangen?
Diese Fragen und noch viel mehr gehen mir schon seit geraumer Zeit immer wieder durch den Kopf, und die negativen und einengenden Gedanken wollen einfach nicht verschwinden. Sie fesseln mich. Sie fressen mich innerlich auf, und das einzige was ich tun kann, um gegen sie antreten zu können, ist sie zu verdrängen und ihnen zu entfliehen.
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Gebunden
Teen FictionDie 23-jährige Valeria Morelli hat nach ihrem schwerem Autounfall keinerlei Erinnerungen an ihr Leben davor. Während sie die Zeit im Krankenhaus verbringt, hofft sie innigst darauf, ihre Erinnerungen wiederzuerlangen, als ihr plötzliche Visionen vor...