[ 5 ] - Sonnenuntergang

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A R A Z

Alter 17

"Die Zeit heilt alle Wunden, doch die Narben bleiben."

Das ist der Spruch, welcher mich schon seit einigen Jahren zum nachdenken bringt.

Der Grund dafür ist wahrscheinlich, weil ich ihn so gut nachvollziehen kann.

Viele glauben, dass man irgendwann von einem Trauma heilen kann, ich jedoch sehe dies ganz anders. Im Gegenteil.

Ich glaube fest daran, dass man niemals zu 100% von einem erlittenem Trauma geheilt werden kann. Selbst wenn man Hilfe anfordert, ist es unmöglich komplett von seinem Trauma abzukommen und diesem zu entfliehen.

Es ist schon 6 Jahre her, seitdem ich von Zuhause — oder besser gesagt — des Hauses meines Onkels abgehauen bin. Ich kann diesen Ort einfach nicht mein Zuhause nennen.

Auch wenn ich seit dem auf der Straße leben, und mich von den Überresten im Müll ernähren muss, finde ich dass es die beste Entscheidung meines Lebens war, vor meinem sadistischem Onkel zu fliehen.

Und wie immer, sitze ich mitten im warmen Sommer auf einer leeren Sitzbank im Park. Der Sonnenuntergang würde bald anbrechen, also hätte ich wenigstens eine kleine Ablenkung gegen die Hitze.

Ich habe den Sonnenuntergang schon immer geliebt. Ich fand schon immer, dass wenn die Sonne untergeht, es noch viel anziehender ist, als wenn sie aufgeht. Der Kontrast ist so anders und doch so ansehnlich. Doch das erinnert mich an etwas.

Alter 9

»Li wir binêre, Ismail!«, sage ich, während ich auf den Sonnenuntergang, welcher am See zu sehen ist, zeige. Mein Bruder lächelt. »Es ist schön, nicht wahr?« Ich nicke hastig.

Wir sitzen gerade auf einem Steg im der Nähe unserer kleinen Wohnung, und bewundern nebenbei die gerade untergehende Sonne.

Er blickt zu mir, als er mich fragt: »Soll ich dir etwas spannendes erzählen?« Wieder nicke ich. »Welche Farbe hat der Sonnenuntergang?«, fragt er unerwartet. »Gelb und Rot?«, sehe ich ihn neugierig darüber an, worauf er hinaus will.

»Das würde jeder sagen.«, »Was?«, frage ich. Er lächelt mich an. »Es ist nur eine Optische - Täuschung.«, »Eine Optische - Täuschung?«, »Ja. Eigentlich sind die Farben des Sonnenuntergangs Violett und Blau.«, »Aber das stimmt nicht! Guck doch!«, stimme ich ihm nicht zu.

Nun lachte er. »Du kannst es nicht erkennen, biçûktir. Deshalb nennt man es ja eine Optische - Täuschung.«, »Ich verstehe das nicht...«, sage ich verzweifelt.

Er wuschelt mir durchs Haar, bevor er sagt: »Hör zu, Araz. Manchmal werden dichtere Lichtwellenlängen erzeugt, mit den Farben Violett und Blau. Diese verstreuen viele kleine Partikel um sich herum, und so entstehen die Farben Gelb und Rot.«

Ich blicke ihn nur irritiert an. »Jetzt verstehe ich noch weniger...«, sage ich leise. »Das musst du auch nicht«, lächelt er.

Ich blicke wieder zum Sonnenuntergang. »Ismail...?«, traue ich mich leise zu fragen. »çi ye?«, fragt er mich. Ich zögere erst. »Warum sind Mama und Babo immer so oft weg?«, sehe ich ihn nun mit Tränen in den Augen an.

»Araz...«, sieht er mich bemitleidend an. »Warum können sie nicht bei uns sein?«, ignoriere ich ihn, als die Tränen fließen.

Er nimmt mich sofort in den Arm, und ich weine in seine Brust. »Sie müssen arbeiten, das weißt du doch«, setzt er fort, als ich mich etwas beruhigt habe, und zu ihm nach oben blicke.

»Denk daran, sie tun das für uns. Damit wir ein Dach über dem Kopf, und warme Mahlzeiten haben können«, sagt er ruhig. »Aber ... was, wenn sie einfach nicht mehr bei uns sein wollen?«, murmel ich. »Hey, sag so etwas nicht«, sieht er mich bestürzt an.

»Sie tun das alles nur, weil sie uns über alles lieben, Araz. Denkst du, sie würden sich all die Mühe machen, wenn sie das nicht tun würden?«

Ich denke darüber nach. »Ja ... du hast Recht«, wische ich mir die Tränen weg und wende mich langsam von ihm ab, um weiter den Sonnenuntergang betrachten zu können.

Er lächelt wieder, und fragt mich daraufhin, um die Stimmung wieder aufzuheitzen: »Soll ich dir noch ein Geheimnis erzählen?« Ich nicke langsam.

Ich liebe diese Seite an ihm. Er hat immer dafür gesorgt, dass egal was passiert, ich immer glücklich bin. Er sorgte immer wieder für solche Ablenkungen, um mich vom Bösen abkommen zu lassen.

»Wusstest du, dass die Sonne eigentlich schon längst untergegangen ist?«, »Aber der Sonnenuntergang ist doch noch da«, sehe ich ihn fragend an. »Wie kann die Sonne dann schon untergegangen sein?«, »Soll ich dir sagen, warum das so ist?«, fragt er.

»Ist es wieder eine Optische - Täuschung?«, »Nicht ganz«, lächelt er. »Es liegt daran, dass sich die Sonne jetzt gerade unter der Horizontebene befindet.«, »Was ist eine Horizontebene?«, »Es ist etwas kompliziert, aber du kannst es dir so vorstellen, dass die Horizontebene die Stelle ist, an der die Erde vom Himmel getrennt wird«, versucht er langsam zu erklären.

»Also befindet sich die Sonne gerade unter dieser Stelle?«, frage ich. »Genau«, lächelt er. »Aber wie können wir die Sonne dann jetzt gerade noch sehen, wenn sie sich unter der Horizontebene befindet?«, frage ich.

»Ich denke du bist noch zu jung, um das zu verstehen. Du wirst es später, wenn du älter bist erfahren.«, »Wirklich?«, frage ich aufgeregt.

»Ja, und wenn du es herausgefunden hast, kannst du mir bescheid sagen, ja?«, strahlt er mich an. »Versprochen?«, »Versprochen.«

Ich werde augenblicklich aus meiner Erinnerung herausgezogen, als mir plötzlich jemand die Augensicht zum Sonnenuntergang verblendet.

Jedoch ist dieser jemand eine absolute Schönheit.

Ihre Haselnuss farbigen Haare strahlen im Sonnenlicht, was einen guten Kontrast mit ihrem weißen Tank-Top und ihrer kurzen schwarzen Jeans Hose hat. Sie steht gerade direkt vor mir, am See, welcher sich in der Nähe des Parkes befindet.

Ich beobachte sie dabei, wie sie ihre Schuhe auszieht. Was hat sie vor? Ich erblicke, wie sie mit nackten Füßen langsam auf den See zugeht.

Ich sehe ihr weiterhin mit gespannten Augen dabei zu, wie sie nun nur mit ihren Füßen im Wasser steht, als sie langsam ihre Augen schließt. Die Brise des Windes weht direkt um sie herum, sodass ihre Haare im Wind fliegen.

Sie sieht dabei so unglaublich wunderschön aus. Sie strahlt, während sie dabei so lebendig aussieht. Und ihre Haarfarbe ändert sich etwas, es wurde viel heller.

Das ist das schönste was ich je gesehen habe. Sie ist das schönste was ich je gesehen habe. Ihre Haut sieht so aus, als ist sie in den Strahlen der Sonne gebadet worden.

Es ist eine Seltenheit von mir, dass ich etwas als wunderschön bezeichnen würde. Doch bei ihr kann ich einfach nicht anders, denn sie ist es. So wunderschön und atemberaubend. Wie der Sonnenuntergang.

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