5. wunderschön

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Sie... musste von meiner Brust gerutscht sein, als ich mich zur Seite gedreht hatte...
"Ähm... sehen wir gerade beide das Gleiche?" fragte Simon mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er einen Geist gesehen.
Ich nickte nur und nahm die Rose vorsichtig in meine unverletzte Hand.

Sie glänzte in der aufgehenden Sonne, die durch die großen Fenster meines Hauses herein schien und ich entdeckte einen winzigen Tropfen meines Blutes an ihrem Stängel, der sich zwischen den Dornen nach unten kämpfte.
Es war ein schöner... und gleichzeitig erschreckender Anblick...
"Was sollen wir jetzt machen?" murmelte Simon und strich über eines der weißen Rosenblätter.
"Ich... weiß es nicht."
Ich hatte wirklich keine Ahnung.
Eine weiße Rose auf meiner Brust... sollte ich nicht tot sein? Warum hatte er mich verschohnt?
Und warum sollte er mir bis nachhause folgen, wenn alles, was er tat, das war... mir... einen Schrecken einjagen.
Und Simon.

"Wir... wir sollten vielleicht... in... ja, in die Stadt gehen! Da sind viele Leute und niemand wird da versuchen, dich zu töten. Nicht einmal der weiße Sensenmann." meinte eben dieser und ich stimmte seinem Vorschlag nur zu gern zu.
So schön die Rose in meiner Hand auch war, die Geschichte dahinter jagte mir einen kalten Schauer nach dem anderen den Rücken hinunter.
"Komm, ziehen wir uns um. Ich hab gerade nicht wirklich Lust, in deinem Haus zu bleiben." murmelte er, immer noch mit einem Hauch von Scherz in der Stimme.

.
Bald darauf liefen wir schon nebeneinander durch die Stadt, die sich langsam mit Leuten füllte.
In jeder Ecke quatschte jemand, stand jemand... überall sah man frisch aufgeweckte Gesichter in dicke Jacken und lange Schaals eingekuschelt.
Feiner Pulverschnee bedeckte die Straßen und zuckerte die gerade öffnenden Läden in der Umgebung an.
Simon schlürfte an meiner linken Seite durch die Stadt, mit einer Frühstückswaffel in der Hand, die er sich von einem Stand am Straßenrand geholt hatte.

"Viel besser..." murmelte er zwischen zwei herzhaften Bissen in sein Frühstück, und schwankte wie ein Betrunkener leicht hin und her.
Aber auch ich merkte, wie die Spannung und die Angst langsam abflachten.
So viele unschuldige Leute zu sehen... das nahm mir die Angst, verfolgt zu werden...
Ich schloss kurz die Augen und atmete die kalte Morgenluft des Winters ein, als ich plötzlich in etwas... oder jemanden hinein rannte.

"Uh! Aua..." murmelte ich überrascht und öffnete meine Augen.
Verwirrt starrte ich auf die durchtrainierte, breite Brust eines Mannes, der ungefähr einen halben Meter größer war, als ich.
Ich sah nach oben und blickte in das dazugehörige Gesicht.
Der Mann trug eine dunkle Sonnenbrille und seine... wirklich langen Haare lagen in einem geflechteten Zopf über seiner Schulter.
"Äh... t-tschuldigung." meinte ich schnell und rieb mir über meine Nase.
Ich war echt ohne Bremsen an ihn angerannt.
"Alles in Ordnung bei dir?" ertönte plötzlich seine tiefe, sehr angenehme Stimme und der Mann vor mir nahm seine Sonnenbrille ab.
Er blinzelte ein paar Mal gegen die Sonne, bevor er mich ansah.
Und wir starrten uns beide überrascht an.
Seine Augen... waren schneeweiß. Eine wunderschön, weiß-rot glänzenden Iris.
Wie war das überhaupt möglich?
Kein normaler Mensch hatte eine solche Augenfarbe...
Eine lange, dünne und tiefe Narbe zog sich über sein Auge, seine Lippen und hinab bis zu seinem Hals...
Aber da war noch etwas...
Eine Erinnerung.

"Ähm... d-du... w..."
Mehr brachte ich bei meinem Versuch, nach.... irgendwas... zu fragen, nicht heraus.
Ich erinnerte mich an gestern und die weiß-roten Augen, die mich aus dem Wald angestarrt hatten.
Das. waren. diese. Augen.
Ohne Zweifel.
Ich trat stotternd einen Schritt zurück und musterte den Mann, der mich mit einer Gewissheit ansah, bei der ich wusste, dass er mich erkannte.
Er wusste, wer ich war.
Und ich wusste, wer er war.

"Micah? Warum stehst du da so verloren?" riss mich plötzlich Simons Stimme aus den Gedanken und ich sah ihn verstört an.
"Siehst du den nicht...? Äh?"
Ich wollte auf den Mann zeigen, in den ich gerannt war, aber... da stand niemand mehr.
"Was meinst du?" fragte er nochmal und ich schüttelte verstört den Kopf.
"N-nichts... egal..." antwortete ich und kam zu ihm.
"Hab ich mir nur eingebildet."

Ich wusste, dass ich mir das nicht eingebildet hatte.
Die Augen dieses Mannes konnte ich mir nicht einbilden. Alles, was ich von ihm gesehen hatte, brannte sich in mein Gedächnis.
Sein Gesicht, die Narbe, sein Körper, seine offensichtlich sehr lichtempfindlichen Augen...
Sehr schöne Augen.
Er... war der Mann, der meinen Vater getötet hatte.
Der, der mich von ihm erlöst hat.
Und er war der, der mich verschohnt hatte.

"Weißt du, Simon... ich glaube, der weiße Sensenmann... ist gar nicht so schlimm, wie er sich gibt."

𝑫𝒆𝒂𝒅𝒍𝒚 𝒂𝒇𝒇𝒆𝒄𝒕𝒊𝒐𝒏Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt