8. lange Tage

51 4 0
                                    

Zögernd schob ich die Glastür auf und trat heraus.
Athan bemerkte mich nicht.
Er schien weggetreten.

Langsam schloss ich die Schiebetür wieder und kam auf ihn zu.
Meine Schritte waren durch den Schnee auf der Terrasse leise, weil ich meine Schuhe und Socken schon vorher im Zimmer ausgezogen hatte.
Aber leise genug, um nicht bemerkt zu werden, war ich eigentlich nicht.
Deshalb wunderte es mich, dass Athan mich nicht einmal ansah, als ich mich neben ihn hockte.
Er starrte nur zitternd auf das Feld voller Rosen vor uns.
Sein Blut tropfte pausenlos auf den Terrassenboden, sein Griff um die Dornen der Rose wurde nur fester.

"Athan?" flüsterte ich und versuchte, seinen Griff um die Rose zu lockern.
Jedoch ohne Erfolg.
Seufzend ließ ich seine Hand los und wischte mir sein Blut von den Fingern.
"Du siehst aus, als wärst du viel alleine." murmelte ich und musterte ihn betrübt.
"Ich kann das ändern."

Darauf setzte ich mich richtig neben ihn, in den Schnee und lehnte mich zu ihm.
Ich spürte, wie sein Körper zitterte und tippte mit meinem Zeigefinger auf seinen Arm.
Unter den kurzen Ärmeln seines Shirts stand ein Tattoo hervor.
Ein eleganter, fliegender Drache.
Ich fuhr die ausgebreiteten Schwingen der Gestalt mit der Fingerspitze nach und musterte den geschwungenen Mond, der hinter dem Drachen schwach leuchtete.
"Das... ist ein schönes Tattoo, Athan." flüsterte ich behutsam und merkte, dass es schien, als würde er mich hören.
Als würde er mir zuhören.
"Hm...?" gab er leise von sich und ich redete weiter, in der Hoffnung, ihn aus der Leere, in der er sich befand, zurück zu holen.
"Ich finde die geschwungenen Flügel am schönsten. Und der Mond im Hintergrung hebt den Drachen noch besser hervor."
Während ich redete, fuhr ich das Tattoo immer wieder nach, als ich merkte, dass sich Athans Griff um den Stängel der Rose langsam etwas löste.
Das Zeichen schien, ihm wichtig zu sein...

Vorsichtig schob ich den Ärmel seines Shirtes noch etwas hoch und konnte somit die andere Hälfte des Tattoos sehen.
Der Schweif des Drachens war um die Blüte einer weißen Rose gewickelt...
"Du..."
Athans Stimme schreckte mich...
Ich fuhr zusammen und sah ihn an.
"Was machst du hier...?" fragte er, seine Stimme zittrig und müde.
"Ich hab dich alleine im Schnee sitzen sehen. Du... warst irgendwie... weggetreten." erklärte ich und nahm ihm vorsichtig die Rose aus der Hand.
"Au, fuck..."
Er sah seine Handfläche verloren an und ich erkannte seine Verwirrtheit über seine Verletzung.
Er... hatte es wirklich nicht mitbekommen.

"In deinem Zimmer... da sind Bandagen in der zweiten Schublade im Regal neben der Schiebetür. Bring mir die..." meinte er und ich nickte, bevor ich aufstand.
Ich ging zurück in mein Zimmer und öffnete die erste Lade des Regals.
Und was mich da erwartete, war... schrecklich.
In der Lade kugelten so viele Medikamenten-Behälter herum, als wäre das ein Krankenhausvorrat.
Verstört griff ich hinein und nahm wahllos ein paar der Plastikbehälter heraus.
Auf den Beschriftungen las ich Begriffe wie 'Anti-Depressiva', 'Seratonin-Modulator', 'Psychopharmaka', 'Haloperidol', 'Hypnotika' und viele mehr...
Und all das waren Medikamente gegen psychische Störungen.
In der Lade lagen sogar ein paar Leere Behälter und einzelne, verstaubte Tabletten jeder Art und Form.
Jedoch fiel mir da ein, was Athan vorher gesagt hatte.
Er sagte... die Bandagen wären in der zweiten Lade. Nicht in der Ersten.

Kopfschüttelnd warf ich die Medikamente zurück in die Lade und schloss sie, bevor ich die zweite, gleich darunter öffnete.
Und dort lagen wirklich Bandagen, Verbände und sogar... Hello-Kitty-Pflaster?

Ich ignorierte die Kinderpflaster und die Medikamente, die ich gesehen hatte, nahm mir eine Bandage und ging aus dem Zimmer, wieder zu Athan.
Ich reichte sie ihm und setzte mich erneut neben ihn.
Dass mein Hintern und meine Hose schon komplett durchnässt waren, scherte mich gerade sogar ziemlich wenig.
Warum Athan nicht hinein ging, wusste ich nicht... aber ich würde ihn im kalten Schnee, mitten in der Nacht auch nicht alleine lassen.
Besonders mach dem, was ich gesehen hatte.

Also sah ich ihm zu, wie er das Ende der Bandage mit den Zähnen festhielt und sie vorsichtig um seine Hand wickelte.
Er tat es mit so einer Ruhe, als hätte er das schon öfter gemacht, als er zählen konnte.
Und doch zuckte er zusammen, als sich der Verband um die Stiche in seiner Haut festzog.
"Willst du nicht rein gehen? Du weißt schon... schlafen?" fragte ich ihn währenddessen und er spähte mit seinen kühlen Augen zu mir.
"Ich schlafe wenig." Wahrscheinlich wegen der Medikamente...
"Und... was ist mit der Kälte? Macht es dir nichts aus?" murmelte ich und lehnte mich zu ihm, den kalten Schnee, der sich auf meiner Haut ablegte, spürend.
Athan schüttelte nur den Kopf und machte still mit der Bandage weiter.
Ich sah ihm zu und merkte, wie mir langsam die Augen zufielen.
Was ich mir dabei dachte, wusste ich nicht... aber ich kuschelte mich an Athan und blieb eine Weile so sitzen.

Was dann passierte, wusste ich auch nicht.
Denn ich schlief trotz der beißenden Kälte schnell ein.
Es war einfach ein langer Tag.

𝑫𝒆𝒂𝒅𝒍𝒚 𝒂𝒇𝒇𝒆𝒄𝒕𝒊𝒐𝒏Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt