Kapitel 1 - Eine Verrückte im Park

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Es vergingen Tage, bis ich aus dem Krankenhaus kam. Ich war von oben bis unten durchgecheckt worden. Vor allem nachdem ich erzählt hatte, dass ich meinte, eine Frau gesehen zu haben, die sich dann einfach aufgelöst hatte – wie aus Zauberhand. Offenbar waren das Auswirkungen des Unfalls gewesen. Aber da ich danach keine solch komischen Sinnestäuschungen mehr gehabt hatte, wurde ich endlich entlassen. Ich sollte mich noch schonen, aber an sich hatte ich alles gut überstanden.

Meine WG-Mitbewohnerin holte mich mit ihrem Wagen ab. Zwei Tage verbrachte ich nur zu Hause, bis mir die Decke auf den Kopf fiel und ich unbedingt rausmusste. Und sei es nur, um einen kleinen Spaziergang zu machen. Ein Park und ein kleiner See waren zum Glück nicht weit entfernt. Auf dem Weg dorthin musste ich eine Kreuzung überqueren, was mir sofort wieder ein mulmiges Gefühl einbrachte. Ich stand an einer Fußgängerampel. Neben mir wartete eine Dreiergruppe mit jungen Kindern. Ich schätzte sie auf etwa zehn Jahre. Eines rief plötzlich „Grün", obwohl wir überhaupt noch nicht Grün hatten. Ein anderes verließ sich darauf und wollte einfach loslaufen. Ich erschrak komplett und wollte gerade einschreiten, als mir eine Frau zuvorkam, die den Jungen an seiner Schultasche packte und festhielt. „Kinder", murmelte sie genervt. Der Junge reagierte nur, indem er stehenblieb. Er drehte sich aber nicht zu der Frau um.

Ich versuchte, das Gesehene schnell zu verdrängen, sonst würde ich nur selbst über meinen eigenen Unfall nachdenken. Ich hatte immer noch keine Erinnerungen daran. Aber die Erzählungen von meinem Beinahe-Tod hatten mir definitiv gereicht. Also flüchtete ich schnell in den Park, um dort die Ruhe abseits des Straßenlärms aufzusaugen.

Auf den Wegen dort war nicht viel los. Ich wunderte mich über zwei Jogger, einer davon in Sportkleidung und der andere in total normaler Kleidung (wie konnte man in Jeans gescheit laufen?). Ich musste fast lachen, als der Jeans-Typ den anderen kurz in die Seite stieß, sodass dieser das Straucheln anfing. Erst dann bemerkte ich den fetten Ast, auf den der Jogger mit richtiger Sportkleidung sonst draufgetreten wäre, wenn der andere ihn nicht zur Seite geschubst hätte. Seltsamerweise zeigte der Sportkleidungs-Typ überhaupt keine Reaktion. Hätte er sich nicht beim Jeans-Typen entweder über den Stoß beschweren (weil er ihn aus dem Tritt gebracht hatte) oder bedanken sollen (weil er sonst über den Ast gestolpert wäre)? Seltsam.

„Du siehst uns also immer noch?!"

„Heilige Scheiße." Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass jemand neben mich getreten war. Ich warf einen Blick zu der Person neben mir und ich merkte, wie mir wahrscheinlich gerade alles aus dem Gesicht fiel. Neben mir stand die junge Frau aus dem Krankenhaus – nur mit anderer Kleidung. Aber sie war es. Die Frau, die ich mir nur eingebildet hatte.

Sofort bekam ich Schweißausbrüche.

„Ich würde sagen, die Antwort ist ja", sagte die Frau, die eigentlich nur eine Halluzination sein konnte.

„Auf was ist die Antwort ja?", fragte ich völlig perplex.

„Dass du uns sehen kannst."

So langsam wurde ich panisch. Bildete ich mir das nur ein? Oder war diese Person gerade doch real und sah meiner Krankenhaus-Halluzination nur zufällig zum Verwechseln ähnlich?

„Wer ist uns?", fragte ich vorsichtig. „Ich sehe nur dich."

Die Frau lachte. Es war ein lautes, aber ziemlich sympathisch wirkendes Lachen. „Ich meine mich, den anderen Engel bei diesem völlig in Gedanken versunkenen Jogger oder den Engel da drüben bei dem Kind auf der Rutsche." Sie deutete auf einen kleinen Spielplatz, wo ein kleiner Junge gerade nach oben zur Rutsche kletterte, eine ältere Frau neben ihm, die vielleicht seine Oma war.

Moment. „Hast du Engel gesagt?"

Die Frau neben mir nickte.

Ich nickte auch. Weil ich auf einmal das Gefühl hatte, dass es vielleicht besser wäre, dieser Frau einfach zuzustimmen. War das nicht das Beste, um Verrückte loszuwerden? Denn diese Frau war eindeutig nicht ganz bei Sinnen.

„Du denkst, ich bin verrückt."

„Nein, absolut nicht." Und wie ich das dachte.

„Und warum starren dich dann alle an, als wärst du die Verrückte?"

Nickend deutete diese wirre Frau auf zwei Frauen mittleren Alters, die uns gerade entgegenkamen und deren Blicke in der Tat nur auf mir lagen. Eine runzelte die Stirn, die andere schaute schnell weg, als unsere Blicke sich begegneten.

„Sie glauben, du redest mit dir selbst."

Ich schüttelte den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. War das doch alles nur Einbildung? Redete ich wirklich mit mir selbst? 

„Komm mit zur Bank. Wir setzen uns kurz", sagte die Frau/Halluzination und ging voraus zu einer Parkbank. Ich wollte ihr überhaupt nicht folgen. Am liebsten wollte ich einfach so schnell wie möglich nach Hause in mein sicheres Bett. Aber etwas zog mich zu ihr hin. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass es wichtig war, mich mit ihr zu unterhalten. Also setzte ich mich neben sie, auch wenn ich so weit wie möglich an die andere Seite der Bank rutschte.

„Kaja, ich bin hier, um dir zu sagen, was mit dir passiert ist."

„Woher kennst du meinen Namen?" Diese Frau verwirrte mich mit jedem Satz mehr.

„Ich weiß jeden Namen von jedem Menschen. Ich bin übrigens Gabriella, aber du kannst mich Gabby nennen."

Warum sollte ich sie überhaupt irgendwie nennen? Ich hatte eigentlich nicht vor, mich weiter mit ihr abzugeben.

„Ich weiß, dass du verwirrt bist", redete Gabriella/Gabby/die Verrückte weiter. „Das war ich auch, als du mich im Krankenhaus gesehen hast. Was dir passiert ist, kommt super selten vor. Du warst kurz tot und wurdest wiederbelebt. Bei einigen Menschen kommt es dabei zu so einer Art Nebenwirkung. So auch bei dir. Du kannst uns jetzt sehen. Und mit uns meine ich uns Schutzengel. Wir sind für die Menschen da. Nicht für alle, so viele sind wir leider nicht. Wir wechseln fast täglich unsere Schützlinge, für die wir aber unsichtbar sind. Wir können euch sehen, hören, berühren. Aber davon merkt ihr nichts. Ich habe im Krankenhaus nach dir geschaut, weil ich beim Unfall in der Nähe gewesen war. Ich war eigentlich jemand anderem zugeteilt, aber als der Unfall geschah, habe ich dafür gesorgt, dass so schnell wie möglich Hilfe kam."

Alles, was ich hörte, waren sinnlose Worte und Sätze, die mein Gehirn versuchte, aneinanderzureihen. Und zwar so, damit sie Sinn ergaben. Doch das alles war ein Puzzle, dessen Stücke nicht zusammenzupassen schienen.

„Du bist jetzt etwas Besonderes, Kaja."

Aber ich wollte doch überhaupt nichts Besonderes sein.

10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt