Es waren drei Monate vergangen, seitdem ich als Mensch gestorben war. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Ich hatte viel gelernt. Und ich hatte meine ersten Einsätze gehabt. Meistens war es tatsächlich nichts Besonderes, auf Menschen aufzupassen. Aber einmal hatte ich darauf geachtet, dass ein Kind nicht mit dem Fahrrad einfach auf die Straße fuhr. Es war zwar kein Auto in unmittelbarer Nähe gewesen, aber ich hatte mich trotzdem stolz und nützlich gefühlt.
Ich mochte es auch, auf der Erde zu wandeln und Menschen zu beobachten, während ich nicht arbeitete. Und da mittlerweile genug Zeit vergangen war, hatte ich nun auch die Erlaubnis, Freunde und Verwandte zu besuchen. Es war schon seltsam gewesen, meine Eltern zu sehen und ihre Trauer. Aber auf eine seltsame Art war es auch okay gewesen. Der Tod gehörte leider zum Menschsein dazu. Und ich war tatsächlich davon überzeugt, dass sie in ein glückliches Leben zurückfinden könnten. Sie bekamen viel Unterstützung. Ich wusste sie in guten Händen.
Heute war der Tag, an dem ich Helena besuchen würde. Sie hatte mein WG-Zimmer mittlerweile neu vermietet. Ich wusste, dass ihre Mitbewohnerin richtig nett war. Das freute mich sehr. Und ich wusste auch, dass sie gerade nicht da war und Helena alleine zu Hause saß. Das war gut so. Denn ich hatte etwas Bestimmtes vor.
Helena war in der Küche, als ich bei ihr erschien. Sie saß am Tisch und blätterte dort in einer Zeitschrift. Neben dieser stand eine Tasse mit dampfendem Inhalt. Sie war eine absolute Teeliebhaberin.
Was ich vorhatte, war riskant. Vielleicht würde ich Helena nur verwirren oder erschrecken, aber darauf wollte ich keine Rücksicht nehmen. Was ich mir erhoffte, war zu wichtig.
Ganz langsam zog ich die Besteckschublade auf, so wie es Gabby vor drei Monaten getan hatte, als wir Helena beweisen wollten, dass Schutzengel wirklich existierten.
Helena zuckte zusammen, als sie das Geräusch der sich öffnenden Schublade hörte. Sie drehte ihren Kopf und starrte mit riesigen Augen in meine Richtung. Ich machte unterdessen einfach mit meinem Plan weiter. Ich nahm eine große Gabel und zwei kleine Kuchengabeln heraus und legte diese auf die Küchenarbeitsplatte, sodass sie zusammen ein K ergaben.
Nach dem ersten Schock kam Bewegung in Helena, die vom Stuhl aufstand und auf die Küchenzeile und damit auch auf mich zuging. Als sie das K sah, schlug sie die Hände vor den Mund. Sie keuchte auf, in ihre Augen traten sofort Tränen. „Kaja", presste sie hinter vorgehaltener Hand hervor und drehte sich dann im Kreis. Es war traurig, wie sie die Küche absuchte und mich doch nicht sehen konnte.
Reflexartig legte ich die Hand auf ihre Schulter, aber sie reagierte nicht. Wie auch? Menschen spürten unsere Berührungen schließlich nicht.
„Bist du wirklich hier?", fragte Helena. Sie klang dabei so hoffnungsvoll.
Ich schnappte mir eine der kleinen Gabeln und ging zum Küchentisch. Mit einer schnellen Bewegung ließ ich die Gabel gegen die Tasse klirren, was eine Art Klingeln erzeugte, das auch gut in Rate-Shows bei richtigen Antworten zum Einsatz hätte kommen können.
Helena lachte. Sie lachte wirklich lauthals. Aber in das Lachen mischten sich auch Schluchzer.
„Du bist es wirklich, oder? Du bist jetzt ein Engel, richtig?"
Wieder schlug ich mit der Gabel klirrend gegen die Tasse. Und Helena lachte erneut lauf auf. Es schien ein erleichtertes Lachen zu sein.
„Geht es dir gut?", fragte Helena.
Ich ließ es wieder klingeln.
Helena nickte. Sie verstand offensichtlich, dass ich ihre Frage bejahte.
Plötzlich tauchte Joel neben mir auf. „Was genau machst du hier, Kaja?" Sein Tonfall war ernst.
„Halt mir jetzt bitte keine Standpauke. Ich musste Helena einfach zeigen, dass ich nicht komplett tot bin. Von den Schutzengeln wusste sie doch eh schon."
„Danke", murmelte Helena in dem Moment. „Danke, Kaja, dass du hergekommen bist, um mir mitzuteilen, dass es dir gut geht." Sie ließ sich seufzend auf den Stuhl fallen und vergrub den Kopf in den Händen. „Ich bin zwar völlig fertig, aber ich bin auch total erleichtert."
Ich warf Joel einen triumphierenden Blick zu. „Siehst du? Es war richtig, herzukommen."
„Kaja, mach dir bitte keine Sorgen um uns", sagte Helena. „Wir kommen klar. Und wenn du auch klarkommst, wird alles gut. Alles ist gut. Auch wenn ich dich sehr vermisse."
Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen.
„Kann ich ihr wohl was schreiben?", fragte ich Joel. „Wenn ich Gegenstände bewegen kann, sollte es doch möglich sein, etwas aufzuschreiben, oder?"
Joel wog sachte den Kopf hin und her. „Möglich ist das bestimmt. Aber du solltest es nicht übertreiben. Dann würdest du etwas von dir zurücklassen. Und ich wäre mir nicht sicher, ob das im Himmel so gut ankommt. Du bist jetzt schon ziemlich weit gegangen."
„Aber Gabby hat letztens auch nichts anderes gemacht."
„Und trotzdem bin ich nicht sicher, ob die Chefs wie Adriel so etwas gutheißen würde. Also bitte ich dich, halt dich lieber zurück."
Ich nickte langsam. Ich sah ein, dass er womöglich recht hatte.
Wir betrachteten Helena noch eine Weile, die still geworden war. Sie hatte ihre Hände vom Gesicht genommen und starrte ein wenig apathisch auf einen Punkt an der Wand. Sie wirkte sehr weit weg, sodass ich mich irgendwann schweren Herzens dazu entschied, zu gehen.
Joel und ich kamen wieder im Himmel an. Bei ihm. Ich hatte endlich sein Zuhause kennengelernt. Jeder hatte sein eigenes Reich im Himmel. Das war das Coole daran. Es gab genügend Platz, keinerlei Wohnungsnot, keine Mieten. Jeder könnte sich einen Palast wünschen und drin leben. Wäre möglich, dass ich das kurz getan hatte. Aber es war dann doch nicht so spannend gewesen. Die vielen Räume kamen einem irgendwann ziemlich leer vor.
Joels Wohnung war minimalistisch eingerichtet. Ich hatte mir mal den Scherz erlaubt, mir ein buntes Sofa her zu wünschen. Joel war nicht begeistert gewesen. Aber ich gab nicht auf. Da ist mittlerweile ziemlich viel Zeit bei ihm verbrachte, würde er sich an meinen Stil schon gewöhnen.
Wir kuschelten uns zusammen auf seine schlichte graue Couch. Er nahm mich in den Arm und breitete eine Decke über meinen Beinen aus, weil er wusste, dass ich das mochte.
„Meinst du, ich kann Helena jetzt öfter besuchen?", fragte ich ihn.
„Wenn du Adriel nichts davon erzählst. Ich glaube, er wird sonst früher oder später doch mal ein ernstes Wörtchen mit dir reden."
„Und wenn er es nicht mitbekommt?"
„Macht es dich denn glücklich, sie zu sehen, obwohl du nicht mit ihr sprechen kannst?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Mir war es einfach nur wichtig, dass sie weiß, dass es mir gutgeht. Ich hatte gehofft, ihr so die Trauer ein wenig nehmen zu können."
„Ich glaube, das hast du."
„Ja, ich hoffe es sehr." Ich seufzte. „Vielleicht besuche ich sie doch ab und zu. Vielleicht schreib ich ihr auch."
„Du legst es echt darauf an, Ärger zu bekommen, oder?"
„Du hast offensichtlich einen schlechten Einfluss auf mich. Wer hat denn früher regelmäßig Mist gebaut?" Ich schmunzelte.
„Dann freue ich mich, dass wir ab sofort zusammen Mist bauen können." Joels Augen funkelten amüsiert.
„Ja, das machen wir."
Okay, das war nicht ganz ernst gemeint, aber Joel wusste das auch. Er war selbst auch nicht mehr der ignorante Typ, den ich damals kennengelernt hatte. Er nahm seinen Job nun viel ernster. Aber immerhin sagte er mir nicht mehr, dass es ihm leidtat, dass ich als Mensch nicht mehr weiterlebte. Dafür sagte er mir jetzt immer öfter, dass er mich liebte.
Und ich liebte ihn auch.
Vielleicht sollte ich demnächst mal eine Liste machen, wieso ich ihn liebte.
Wobei das sicher mehr als zehn Punkte wären.
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10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasse
FantasyONC 2024: Nachdem Kaja nur knapp dem Tod entkam ist alles anders: Sie sieht auf einmal Schutzengel und erfährt, dass derjenige, der sie hätte beschützen sollen, seine Arbeit nicht richtig gemacht und sie fast dem Tod überlassen hätte. Sie macht sich...