Kapitel 10 - Ein besonderer Nachtflug

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So musste sich Bungee-Jumping anfühlen. Erst fiel man scheinbar ins Bodenlose, bis einen wieder etwas nach oben riss. Nur gab es einen großen Unterschied. Mich hatte kein Seil zurückgezogen. Stattdessen merkte ich, wie sich zwei starke Arme um mich schlangen. Der eine lag in meinen Kniekehlen, der andere fest um meinen Oberkörper. Ich wurde buchstäblich auf Händen getragen. Dass alles fühlte ich nur, denn sehen konnte ich nichts. Oder besser, ich wollte es nicht. Ich presste mein Gesicht an die Brust der Person, die mich hielt. Ich wollte die Augen gar nicht öffnen, aus Angst, dass das alles ein Traum wäre. Nach meinem Sturz ins Nichts stand ich völlig unter Schock. Ich konnte mich gar nicht bewegen.

Erst als ich einen Luftzug wahrnahm, schaltete mein Gehirn wieder ein. Es war, als würde ich immer noch durch die Luft sausen. Nur, dass es sich nicht anfühlte, als würde ich fallen. Aber was war dann mit mir los?

Völlig überfordert und wieder leicht panisch riss ich schließlich doch die Augen auf, weil ich mit der Ungewissheit nicht leben konnte. Lieber sah ich meinem Tod direkt in die Augen. Aber ich konnte nicht besonders viel erkennen, denn es war dunkel. Ich sah schemenhaft die Person, die mich in den Armen hielt. Und mein Verstand, der langsam zurückkam, sagte mir, dass es Joel sein musste. Auch wenn sich alles in mir sträubte, dass ausgerechnet er mir so nahekam.

Dann entdeckte ich doch etwas, was ich sehen konnte, weil es im pursten Weiß leuchte. Überrascht holte ich Luft. So tief, dass Joel auf mich aufmerksam wurde.

„Ich hatte schon befürchtet, dass du ohnmächtig wärst", hörte ich ihn sagen.

Ich konnte aber nicht antworten, denn ich war vollkommen überwältigt. Noch immer strömte kühle Nachtluft an mir vorbei, presste sich gegen mich und mir wurde plötzlich klar, wieso. Wir flogen. Oder besser gesagt: Joel flog und hielt mich dabei fest. Ich konnte nicht aufhören, auf die riesigen, einfach magisch wirkenden, hellen Flügel zu starren, die aus Joels Rücken und Schultern herausragten. Sie schimmerten leicht, wirkten fast nicht real. Aber sie waren es.

„Ist bei dir alles klar, Kaja?" Joel klang tatsächlich besorgt.

Ob bei mir alles klar war? Ich war erst knapp dem Tod entkommen und wurde nun von einem Engel durch die Luft getragen. In atemberaubender Geschwindigkeit. Und ich war darauf angewiesen, dass er mich festhielt, denn sonst wäre ich totale Matsche. Sobald er mich losließ, war es das. Scheiße, Joel hatte mich wirklich wortwörtlich in der Hand. Und das gefiel mir gar nicht.

„Können wir landen?" Ich spürte, wie ich zitterte. Trotzdem presste ich noch ein „Bitte" hinterher.

Joel lachte. Ich spürte, wie seine Brust bebte. „Jetzt schon? Dabei hast du doch noch gar nichts gesehen. Sieh dich um. Ich weiß, ich bin schön, aber du kannst ruhig aufhören, mich anzustarren."

Der Kerl hatte sie doch nicht mehr alle! Ich sollte mir mit eigenen Augen ansehen, in welch gefährlicher Situation wir uns gerade befanden? Das wollte ich auf keinen Fall.

Nur leider war ich auch eine ziemlich neugierige Person und ich schielte ein wenig an Joel vorbei. Ich kam mir vor, wie in einem Horrorfilm, bei dem man nicht hinsehen wollte und gleichzeitig doch auf den Fernseher starrte. Und als ich die ersten Lichter sah, drehte ich meinen Kopf endgültig von Joel weg. Und verdammt! Das war ja mal ein Ausblick.

Ich hatte einmal nachts in einem Flugzeug am Fenster gesessen. Damals waren die Lichter der Städte unter uns schon gewaltig gewesen. Aber das hier war anders. Wir waren viel dichter dran, flogen zwar hoch über den Häusern, aber auch nicht zu hoch. Überall zogen sich Lichter in feinen Ketten über den Boden. Die größten beleuchteten Gebäude stachen heraus. Teilweise gab es auch dunkle Flächen, wo Wälder oder Flüsse waren. Aber sie schienen dieses irre Licht-Puzzle auf schöne Weise zu ergänzen.

Und auf einmal fühlte es sich überhaupt nicht mehr schlimm an, dass einem derart viel kalte Luft entgegenschlug. Eben hatte dies noch leichte Panik hervorgerufen. Jetzt gab das einem eher ein Gefühl von Freiheit. Und noch nie in meinem Leben hatte ich mich derart lebendig gefühlt. Es war krass. Da hatte man in einem Moment absolute Todesangst, das schrecklichste Gefühl, das ich je gehabt hatte. Und im nächsten Moment fühlte ich mich so machtvoll, weil ich über den Dächern dieser Welt schwebte. Nur, dass ich dafür nichts konnte.

Ich wünschte, ich müsste Joel nicht danken. Aber das wäre nicht fair gewesen.

„Das ist der Wahnsinn", rief ich enthusiastisch, denn ich war immer noch hin und weg. „Danke, dass du mich gerettet hast. Und danke für das hier." Ich hätte am liebsten meine Arme weit ausgebreitet, aber ich hatte Angst, dass ich dann aus Joels Armen rutschen würde. Dabei würde er mich sicher wieder auffangen, oder? So wie eben.

Auf einmal kam ich mir ziemlich dämlich vor. „Oh mein Gott. Ich bin so blöd", sagte ich.

„Wieso?"

„Das kann auch wirklich nur passieren. Dass ich vom Dach falle."

Ich hätte gewettet, dass Joel mich jetzt auslachen würde, aber das tat er nicht. Stattdessen klang er sehr ernst. „Du hast mich damit ziemlich erschreckt."

Mir war das unglaublich peinlich. Es war, als würde mich die Nachtluft schlagartig nüchtern machen. Wie schrecklich hatte ich mich denn aufgeführt? Hatte ich wirklich gedacht, vor einem Schutzengel, der jederzeit überall auftauchen konnte, weglaufen zu können? Im Zickzack? Auf einem Dach eines hohen Gebäudes? Ja, war ich noch zu retten?

„Tut mir leid, wie ich mich aufgeführt habe", sagte ich.

„Wie war das?"

„Ich sagte, es tut mir leid."

„Ich habe dich, glaube ich, nicht richtig verstanden."

Oh, nein. Das Spiel würde ich nicht mit mir spielen lassen. „Du weißt ganz genau, was ich gesagt habe", entgegnete ich. Er sollte ja nicht so tun, als ob das nicht der Fall wäre. Er war ja nicht taub. Und er hatte mich bisher auch bestens verstanden.

„Ich will, dass du es noch einmal sagst."

„Kannst du vergessen."

„Du weißt schon, dass du nicht gerade in der Position bist, zu diskutieren, oder?" Ich hörte sein Grinsen aus seiner Stimme heraus.

„Du kannst mir keine Angst machen", sagte ich selbstsicher. Er würde mich niemals fallen lassen. Es war ja schließlich sein Job, auf mich aufzupassen.

„Sicher, dass ich dir keine Angst machen kann?"

Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass mein Magen einmal auf links gedreht wurde. Im Sturzflug rasten wir nach unten. Mit den Köpfen voran. Es war irre. Und ich schrie. Es war wie in einer verdammten Achterbahn. Ich wusste, es war nicht gefährlich – nicht in Joels Armen - aber ich schrie trotzdem.

„Sag es!", hörte ich Joel rufen.

Ich konnte nicht anders. Ich musste nachgeben. „Es tut mir leid", rief ich in den stillen Nachthimmel hinein.

Sofort nahm Joel das Tempo raus. Mein Magen beruhigte sich, bestimmt nahm das Adrenalin ab. Und das sorgte dafür, dass ich in einen richtigen Lachkrampf verfiel. Ich wollte Joel hassen. Wirklich! Das war echt gemein von ihm gewesen, so erneut eine Entschuldigung aus mir herauszupressen. Aber wenn ich ehrlich war, hatte dieser Flug einfach etwas Berauschendes an sich. Es war etwas, an das ich mich auf ewig erinnern würde. Eine fantastische Erfahrung.

„Wo fliegen wir eigentlich hin?", fragte ich, da Joel immer noch einen leichten Kurs nach unten einlegte.

„Warte es ab."

„Warum fliegen wir überhaupt? Du könntest uns doch überall sofort hinbringen. Quasi mit einem Fingerschnipsen."

„Aber das macht nicht so viel Spaß, oder?"

Da hatte er allerdings recht. „Ich habe nur nicht gewusst, dass du fliegen kannst", sagte ich. „Bisher habe ich noch nie Flügel an dir gesehen."

Joel lachte. „Ich bin ein Engel. Wie hast du dir diese denn bislang vorgestellt? Etwa ohne Flügel?"

Und schon wieder ließ er es so klingen, als wäre ich die Dumme von uns beiden. Ich wollte am liebsten etwas entgegnen. Aber dieses Mal ließ ich es bleiben.

Ich entschied mich, den Flug zu genießen. Wo auch immer Joel mich hinbringen würde. Komischerweise vertraute ich ihm. Was ein seltsames und neues, aber auch beruhigendes Gefühl war.

10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt