Kapitel 11 - 10 Dinge

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Ich musste ehrlich sagen, dass Joel einen wundervollen Platz zum Landen ausgesucht hatte. Wir waren auf einer Erhebung, einem kleinen Berg am Rande der Stadt. Dort gab es eine Aussichtsplattform, die um diese Uhrzeit komplett verwaist war. Für uns war das absolut perfekt. Wo hätte Joel sonst hinfliegen sollen? Wenn uns jemand gesehen hätte, hätte man genaugenommen ja nur mich gesehen. Dann wäre ich diejenige gewesen, die scheinbar geflogen wäre. Bestimmt hätte ich einigen Leuten richtig Angst einjagen können. Eigentlich ein faszinierender Gedanke.

Hier oben war es dunkel, aber das störte mich nicht. Denn erstens sah man über uns die Sterne funkeln und zweitens waren unten die Lichter der Stadt zu sehen, was etwas Beruhigendes an sich hatte. Ich konnte mir ein langgezogenes „Wow" nicht verkneifen, als ich hinabsah.

„Und, habe ich den Ort gut ausgesucht?"

„Ja, du bist der Beste", sagte ich mit einem fetten ironischen Unterton.

„Ich bekomme nicht einmal ein ehrliches Danke?"

Sofort fühlte ich mich schlecht. Ich riss meinen Blick von der Stadt unter uns los und sah Joel an. Auch wenn nur sanftes Mondlicht auf uns hinabschien, konnte ich trotzdem seine Augen sehen.

„Danke", sagte ich. Diesmal ohne Ironie. „Ehrlich, Joel. Danke. Dafür, dass du mich gerettet hast, mir die Welt von oben gezeigt hast und dass du mit mir zu diesem Aussichtspunkt geflogen bist. Es ist wirklich unglaublich."

Joel lächelte. Und das erwärmte mir das Herz. Keine Ahnung wieso.

„Das ist vermutlich das Netteste, das du je zu mir gesagt hast", sagte Joel.

„Vermutlich. Aber mal ehrlich: Du hast mir auch nicht gerade einen Anlass dafür gegeben, nett zu sein, oder? Das warst du schließlich auch nicht."

„Tut mir leid, wenn das so rübergekommen ist." Joel wirkte ehrlich zerknirscht, was mich komplett überraschte.

„Ich dachte, du hättest Spaß daran, dich wie ein Arschloch aufzuführen? Du hast das doch mit Absicht gemacht."

Joel verschränkte seine Arme. Er trat zu mir an die kleine Mauer – die aber zum Glück wesentlich höher und sicherer als die auf der Dachterrasse war – und lehnte sich dagegen. Da fiel mir plötzlich was auf.

„Wo sind deine Flügel?", fragte ich verblüfft. Er sah wieder genauso normal aus wie jeder gewöhnliche Mensch.

„Wir fliegen nicht mehr. Wieso sollte ich sie jetzt noch bei mir haben?"

„Du machst es schon wieder."

„Was?"

Ich seufzte. „Du lässt es so klingen, als hätte ich eine dumme Frage gestellt. Du wirkst oft so überheblich, dabei weißt du ganz genau, dass ich gar nicht alles über euch Engel wissen kann. Natürlich stelle ich da komische Fragen."

„Ein bisschen Nachdenken schadet aber trotzdem nicht."

Am liebsten hätte ich laut geschrien. Hatte ich wirklich gedacht, dass Joel und ich ganz normal miteinander umgehen konnten?

„Ich fasse es nicht, dass du immer so bist", sagte ich.

„Wie denn?"

„So, dass man dich zwangsläufig nur hassen kann."

Joel lachte. Er lachte doch wirklich schallend laut. „Ach bitte, Kaja. Als ob du mich hassen würdest. Das kaufe ich dir nicht ab."

Was sollte das denn jetzt heißen? „Denkst du etwa, du wärst eine liebenswerte Person?", entfuhr es mir einen Tick zu laut. Ich merkte, wie er es schon wieder schaffte, diese unbändige Wut auf ihn anzufachen.

10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt