Kapitel 19 - Höhenflug

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Joel trat mit mir an die Mauer am Rand der Aussichtsplattform. Dann, wirklich wie aus dem Nichts, erschienen seine strahlendweißen Flügel auf seinem Rücken. Mit offenem Mund betrachtete ich diese. Der Anblick war immer noch absolut faszinierend. Diese Flügel, die geradezu Perfektion ausstrahlten, machten ihn tatsächlich noch attraktiver. Einfach besonderer.

„Jetzt du", forderte Joel mich auf.

„Was?", fragte ich.

„Du hast Flügel, du kannst sie heraufbeschwören, wenn du fest an sie denkst."

Ich konnte nicht fassen, dass es so einfach sein sollte. Andererseits hatte ich mich auch schon an diesen Ort gebeamt, da dürfte mich eigentlich nichts mehr wundern.

Ich schloss die Augen, stellte mir Flügel vor, wie ich sie bereits an Joel sah. Zwei ausladende Schwingen, plüschig-weich wie Federn. Und auf einmal spürte ich ein warmes, angenehmes Prickeln, das über meinen oberen Rücken lief, fast hin bis zu den Schulterblättern.

Noch bevor ich die Augen öffnete, wusste ich, was ich sehen würde. Es war aber trotzdem erstaunlich, als ich links und rechts von mir weiße, majestätische Flügel sah, die auch noch leicht hin- und herschwangen. Ich konnte sie sogar mit den Gedanken steuern und bewegen. Es war tatsächlich total simpel. Sie fühlten sich einfach an wie zwei weitere Arme – eben total natürlich.

„Ich habe wirklich Flügel", rief ich total enthusiastisch. Mir traten sogar Tränen in die Augen, weil ich einfach überwältigt war. Und noch schöner war es, Joels herzerwärmendes Lächeln zu sehen, der sich offenbar mit mir freute.

„Meinst du, ich kann einfach so losfliegen?", fragte ich ihn.

„Klar, wieso nicht?"

Ich musterte ihn kritisch. „Vielleicht, weil ich das noch nie gemacht habe? Es kann ja auch schließlich niemand ein Flugzeug steuern ohne Flugstunden."

„Seit wann hältst du dich für ein Flugzeug?"

„Haha, sehr witzig."

Joel grinste frech. Und mir ging das Herz auf, denn genau dieses Freche an ihm wollte ich sehen.

„Jetzt mal im Ernst", sagte ich. „Was soll ich tun?"

„Denk einfach daran, wie du deine Flügel bewegst und was du erreichen willst beziehungsweise wo du hinwillst. Du kannst Flügel genauso leicht kontrollieren wie Beine oder Arme." Und schon bewegte er selbst seine Schwingen und stieg zwei Meter nach oben. Fasziniert betrachtete ihn vom Boden aus. „Jetzt versuch du es", rief er mir von oben zu.

Ich spürte meine Flügel auf meinem Rücken und merkte, dass es tatsächlich sehr simpel war, sie zu bewegen. Zuerst nur allmählich, dann immer deutlicher. Ich merkte, welche Kraft von ihnen ausging. Es wunderte mich trotzdem, als ich den Kontakt zum Boden verlor. Es erschreckte mich auch ein wenig, als ich mich selbst in die Höhe hob, aber nach dem ersten Schock folgte pure, fast schon kindliche Freude. Ich grinste wahrscheinlich wie ein Honigkuchenpferd, als ich auf einer Höhe mit Joel ankam.

„Und, wie ist es?", fragte er.

„Toll", rief ich. Ich hatte überhaupt keine Worte, um dieses fantastische Gefühl zu beschreiben. Nichts konnte dem auch nur annähernd gerecht werden.

„Okay, wo willst du jetzt hin?", fragte Joel.

„Vielleicht weiter nach oben? Es darf uns ja keiner sehen."

„Hast du schon wieder vergessen, dass du für die Menschen unsichtbar bist?"

„Ups." Ja, hatte ich wohl.

Joel lachte. „Interessant, dass du immer noch genauso verpeilt bist wie als Mensch."

Ich lächelte.

10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt