Kapitel 18 - Vergebung

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Gabby hatte vor der Tür von Adriels Büro auf mich gewartet. Joel war wohl an ihr vorbeigerauscht ohne ein Wort zu sagen, also erklärte ich ihr kurz die Situation und dass Joel offensichtlich gerade an Selbstvorwürfen zerbrach. Ich fragte sie, wo ich ihn finden könnte und sie meinte, das wüsste ich vermutlich selbst. Und seltsamerweise hatte sie recht.

Schutzengel konnten jederzeit jeden anderen Schutzengel ausfindig machen. Ich war zwar gerade erst verwandelt worden, aber diese Ortungs-Fähigkeit funktionierte ganz automatisch. Und was noch viel beeindruckender war: Ich konnte mich auf einmal selbst zu diesem Ort hinbeamen. Ich hätte gedacht, dass das Übung erforderte, aber es war völlig normal. Es war wie Laufen. Und vor allem wurde mir dieses Mal nicht schwindelig.

Es hätte mich eigentlich nicht verwundern sollen, dass Joel auf der Aussichtsplattform war, wo wir uns das erste Mal geküsst hatten. Mittlerweile war es abends, die Sonne ging langsam unter. Es war aber immer noch hell genug, um mehr von der Stadt zu sehen, als zuletzt mitten in der Nacht. Ich hätte den Ausblick wirklich genießen können, wenn Joel nicht völlig zusammengesunken auf einer Bank gesessen hätte. Er schaute nicht einmal auf, als ich mich neben ihn setzte.

„Joel, machst du dir wirklich solche Vorwürfe, dass du lieber sterben würdest, als mit diesen zu leben?", fragte ich möglichst sanft. Ich musste seine Antwort einfach hören.

Joel starrte weiter auf den Boden vor sich. Ich dachte erst, dass er gar nichts sagen würde, bis er doch den Mund aufmachte. „Du bist nicht mehr Teil deiner Welt und das ertrage ich nicht. Es tut mir so leid, Kaja. Ich hätte da sein müssen."

„Das hättest du nicht und das weißt du. Selbst Adriel hat gesagt, dass es nicht deine Pflicht war, vierundzwanzig Stunden am Tag auf mich aufzupassen."

„Aber hätten wir uns nicht gestritten, hätte ich dich sicher nicht allein gelassen. Ich wäre dir draußen, wo es gefährlich sein kann, auf Schritt und Tritt gefolgt. Ich hätte diesen Unfall verhindern können. Ich hätte dich schneller da wegzerren können."

„Wir wissen nicht, was passiert wäre. Ja, vielleicht hättest du mich gerettet. Aber hätte das was gebracht? Hätte das Auto dann jemand anderen erwischt? Vielleicht Helena, die ich dann nicht beiseitegezogen hätte? Das hätte ich auch nicht ertragen."

„Aber du könntest noch leben."

„Wann checkst du endlich, dass es für mich okay ist, als Schutzengel weiterzumachen?"

„Das sagst du nur, weil deine Gefühle bezüglich deines Menschenlebens abgestellt worden sind. Du weißt nicht, was du verpasst. Aber ich weiß es. Dir wurden Jahre voller Glück auf Erden genommen."

„Und wer sagt mir, dass ich nicht auch im Himmel glücklich sein kann?"

„Es ist nicht dasselbe. Es gibt nur einen Job. Es gibt im Himmel keine schönen Landschaften. Du darfst auf der Erde zwar wandeln, kannst diese aber nicht richtig genießen, weil du für die Menschen unsichtbar bist."

„Du hast eigentlich meist sehr zufrieden mit deinem Leben gewirkt. Und Gabby auch. Ich bin sicher, dass ich mich diesem neuen Leben anpassen kann. Und dass ich glücklich werden kann."

„Aber ich werde nicht glücklich." Joel sah das erste Mal auf, seitdem ich mich neben ihn auf die Bank gesetzt hatte. Er drehte sich zu mir um, seine Augen funkelten rot. Bestimmt hatte er geweint.

„Joel ..." Ich griff nach seinen Händen und verschränkte meine Finger mit seinen. „Eigentlich gibt es gar nichts zu verzeihen, ich will es dir trotzdem sagen: Ich verzeihe dir. Ich verzeihe dir, dass du nach unserem Streit nicht mehr aufgetaucht bist. Ich verzeihe dir, dass du bei jemand anderem warst und nicht bei mir. Wenn ich dir verzeihen kann, kannst du das auch. Du musst dir selbst vergeben. Bitte! Sonst machst du nicht nur dich unglücklich, sondern mich gleich mit."

In seinen Augen flackerte etwas auf. So etwas wie Erkenntnis. Ich hoffte, dass ich mit dem letzten Punkt zu ihm durchgedrungen war.

„Joel, ich brauche dich jetzt mehr denn je. Ich bin komplett neu in diesem Schutzengel-Business. Wenn du mich jetzt hängen lässt, würdest du dir wirklich was zu Schulden kommen lassen. Jetzt brauche ich deine Hilfe wirklich. Um mich einzufinden und mit allem zurechtzukommen."

„Ich glaube nicht, dass ich der richtige Lehrer dafür wäre." Er klang extrem müde.

„Ich will keinen Lehrer. Ich will einen Freund."

„Einen Freund?" Joel zog das Wort ziemlich in die Länge. „Wie einen Schutzengel-Buddy, der dir unsere Welt erklärt. Oder einen Freund, wie einen festen Freund?"

„Beides." Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum.

„Wie kannst du mich nach all dem noch wollen?"

„Wieso nicht? Du bist immer noch derselbe. Solange du irgendwann mal anfängst, wieder normal zu werden und mich nicht so anschaust, als wäre mir etwas total Schreckliches passiert. Hey, ich bin jetzt genau wie du. Wir können richtig viel zusammen machen. Im Himmel abhängen. Auf der Erde, ohne dass uns dabei jemand sieht. Ich muss mir keine Gedanken mehr darum machen, ob mich jemand für bescheuert hält, weil ich mit mir selbst rede. Wir können zusammen fliegen ... Oh mein Gott! Das können wir doch, oder? Habe ich jetzt auch Flügel? Sag mir, dass ich Flügel habe, bitte!"

Ich wusste, dass ich quietschte wie ein Kleinkind. Aber das war mir egal.

Außerdem sah ich erstmals wieder einen Anflug eines Lächelns auf Joels Gesicht.

„Das ist es, worüber du dir Gedanken machst?", fragte Joel. „Ob du fliegen kannst?"

Ich nickte grinsend.

„Soll ich es dir zeigen?"

Ich nickte noch viel heftiger als wäre ich so ein lustiger Wackeldackel im Auto.

„Okay, komm!" Joel zog mich von der Bank hoch. Er wirkte schon wieder etwas mehr wie er selbst. Und das war alles, was ich mir erhofft hatte. Wenn ich ihn ablenken konnte, dann war das perfekt. Wenn ich dabei auch noch fliegen lernen würde, wäre das nur noch umso besser.

Oder würde das alles komplett schiefgehen? Würde ich auf den Boden fallen, die Kontrolle verlieren? Würde ich mich zu dumm anstellen?

Ich würde wirklich fliegen. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht?

10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt