Kapitel 6 - Ein wenig Normalität

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Zum Glück war Joel den restlichen Morgen über nicht wieder aufgetaucht. Ich hätte mich darüber freuen können, aber ehrlicherweise machte es mich wahnsinnig, ständig darauf zu warten, dass er neben einem erschien. Wir hätten irgendetwas ausmachen sollen. Feste Zeiten. Aber ich konnte mir vorstellen, dass er darauf nicht eingegangen wäre. Ich wusste ja auch nicht, wie intensiv er bei anderen Menschen in seine Arbeit eingebunden war.

Ich versuchte, Joel so gut es ging zu vergessen und mich auf andere Sachen zu fokussieren. Zum Beispiel auf die Uni. Nach dem Unfall hatte ich mich schonen sollen, daher hatte ich nur von zu Hause aus ein wenig gelernt, aber jetzt wollte ich mal wieder zurück in die Vorlesung. Außerdem war ich sicher, dass mir der Uni-Alltag helfen würde, wieder einen Hauch von Normalität zu spüren. Und ganz ehrlich: Nach den Sachen, die zuletzt passiert waren, hatte ich Normalität dringend nötig.

Und es gelang mir tatsächlich, für ein paar Stunden meinen Kopf auszuschalten. Zumindest, bis mich jemand auf den Unfall ansprach.

„Hey, Kaja." Nick, ein Kommilitone, zwängte sich an anderen vorbei und begann, neben mir herzugehen, als wir uns gemeinsam aus dem Vorlesungssaal auf den Flur zwängten. „Ich bin echt froh, dass du wieder da bist. Dieser Unfall muss ja schrecklich gewesen sein. Wie geht es dir denn?"

„Ach, mittlerweile wieder ganz gut", sagte ich und schenkte ihm ein möglichst umwerfendes Lächeln. Denn ja, ich mochte Nick. Sogar etwas mehr als das. Wir hatten zu Beginn unseres ersten Semesters eine Partnerarbeit zusammen erledigt. Die Paare waren ausgelost worden. Am Anfang war ich nervös gewesen, schließlich kannten wir uns gar nicht. Aber ich muss sagen, ich hatte mit dem Los echt Glück gehabt. Er war fleißig, gewissenhaft, schlau. Er war auch lustig und einfach verdammt freundlich und aufmerksam. Er hatte sich direkt nach mir erkundigt, als ich länger nicht zur Uni gekommen war. Daher hatte ich ihm auch von dem Unfall erzählt.

„Wenn du Unterstützung dabei brauchst, alles nachzuholen, helfe ich dir gerne", sagte Nick, während wir gemeinsam durch den Flur liefen.

„Das ist wirklich super lieb von dir. Vielleicht werde ich darauf zurückkommen", sagte ich. Wobei man das Wort „Vielleicht" streichen konnte. Ich würde mir sicher nicht die Chance nehmen lassen, mit ihm zu lernen.

„Ich hätte heute Abend Zeit", schlug Nick vor und mein Herz machte einen leichten Hüpfer. Er meinte das mit der Hilfe also wirklich ernst. Und er wollte nicht warten. „Wir könnten ein Lern-Date draus machen. Lernen, Essen, vielleicht auch einen Film gucken. Also nur wenn du magst." Jetzt lächelte er schüchtern.

„Ein Lern-Date?", wiederholte ich. „Also eine Mischung aus Lernen und einem echten Date?" Ich hoffte, dass ich ihn richtig verstanden hatte.

„Ja, genau."

„Gerne. Sehr gerne sogar."

Das 1000-Watt-Strahlen, das sich auf Nicks Gesicht ausbreitete, ließ mich wahrscheinlich genauso sehr strahlen. Ihm bedeutete mein Ja etwas. Und das machte mich extrem glücklich.

Wir beschlossen, dass wir uns bei ihm treffen würden, denn im Gegensatz zu mir hatte er eine eigene Wohnung, auch wenn es sich dabei um eine Ein-Zimmer-Wohnung handelte. Typisch Student eben. Aber das würde reichen.

Wir verabschiedeten uns voneinander und ich ging nach draußen, um mich auf den Weg nach Hause zu machen. Ich hatte es zum Glück nicht weit. Oft fuhr ich mit dem Fahrrad, aber mein Rad war durch den Unfall in Mitleidenschaft geraten, sodass ich gerade keins hatte. Daher lief ich zu Fuß. Ich hätte auch den Bus nehmen können, aber ein wenig frische Luft und Bewegung würden mir sicher guttun.

„Na, wie war dein Tag?"

Ich war richtig stolz auf mich, dass ich lediglich zusammenzuckte und nicht die ganze Straße zusammenschrie, als Joel aus dem Nichts neben mir auftauchte. Trotzdem war ich sofort auf Hundertachtzig.

10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt