Was sollte ich sagen? War es normal, wenn das Gehirn total aussetzte? Wenn man nur noch Watte im Kopf hatte, aber sich das trotzdem normal anfühlte?
Als Joel mich küsste, war es wie in einem Rausch. Ehrlich! Ich hatte das Gefühl, dass die ganze Welt stillstand. Vielleicht waren wir auch gar nicht mehr auf dieser Welt. Vielleicht hatte mich der Kuss auch meilenweit wegkatapultiert. Ich fühlte mich schwerelos und wie im Himmel. Und mal ehrlich: Bei Joel würde es mich nicht überraschen, wenn das tatsächlich der Fall wäre.
Als seine Lippen sich von meinen lösten, empfand ich so viel. Dankbarkeit, Freude, Verlangen. Ich wollte mehr und war gleichzeitig froh, dass er mir einen kurzen Moment gab, dem Erlebten nachzufühlen und so wieder etwas Verstand in meinen Kopf zu bekommen. Er fühlte sich wirklich wie in Watte gepackt an. In klebrige, pinke, süße Zuckerwatte.
Oh man, Kaja. Was denkst du da bloß?
Langsam öffnete ich die Augen. Ich musste schließlich wissen, ob ich immer noch auf der Erde war oder im Himmel. Und ob ich das alles nicht doch geträumt hatte.
„Was denkst du?", fragte Joel.
Ich ließ meinen Blick an ihm vorbeiwandern, um festzustellen, dass wir immer noch auf derselben Aussichtsplattform standen wie zuvor. „Ich bin froh, dass ich mir das offenbar nicht eingebildet habe", sagte ich wahrheitsgemäß.
Joel sah mich erst etwas irritiert an, dann lächelte er. „Soll ich dir beweisen, dass das hier echt ist?" Während er das fragte, fuhr er langsam mit seinen Fingerspitzen an meiner Wange entlang und schob sanft eine Haarsträhne hinter mein Ohr. Dann beugte er sich vor und seine weichen Lippen pressten sich auf meine. Etwas fester, etwas wilder als zuvor. Und verdammt! Dieser Kerl wusste, was er tat.
Etwas zu abrupt schob ich ihn von mir weg.
„Was ist los?", fragte er verwirrt.
„Du hast aber nicht im Himmel eine Schutzengel-Freundin, die auf dich wartet, oder?"
Er schüttelte den Kopf. „Stell dir vor: Von Betrügen halte ich nichts. Obwohl ich sicher in der Lage wäre, mehrere Beziehungen gleichzeitig zu händeln." Er grinste frech.
„Blödmann", sagte ich und verpasste ihm einen leichten Stoß gegen die Brust. Kopfschüttelnd drehte ich mich danach von ihm weg. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf zu explodieren schien, nachdem Joel es zuvor geschafft hatte, meine Gedanken kurz auszuschalten. Jetzt waren sie wieder da und hörten nicht auf zu rasen.
„Was ist das hier?", fragte ich, als ich mich wieder zu ihm zurückdrehte, um ihm in die Augen sehen zu können. „Was ist das mit uns?"
Joel zuckte mit den Schultern. „Was immer du möchtest."
Was immer ich möchte? Was war das denn für eine Antwort? Diese warf nur noch mehr Fragen auf. Was wollte ich überhaupt? Bis eben hatte ich noch gedacht, dass Joel mich hasste. Und auf einmal sah er mich an, als hätte er nie etwas Wertvolleres in seinem Leben betrachtet. Und er machte mich wahnsinnig. Okay, das hatte er schon immer. Aber diese Art von Wahnsinn hatte sich verändert. Er machte mich nicht mehr wütend, sondern sorgte dafür, dass meine Knie zu Wackelpudding wurden.
Zuckerwatte, Wackelpudding? Vielleicht sollte ich weniger Süßkram essen.
„Also Kaja, was willst du?"
„Nicht mehr an Essen denken."
„Wie bitte?"
Ich seufzte. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich will. Ich finde es gut, dass wir uns ausgesprochen haben und ich will nicht mehr streiten. Aber jetzt, wo wir das nicht mehr tun, bin ich leicht verwirrt. Oder vielleicht auch etwas mehr als leicht."
Joel schmunzelte. Dabei hatte er so schöne Grübchen. Okay, ich sollte mich davon wohl besser nicht ablenken lassen.
„Ich bin verwirrt", redete ich weiter. „Die Frage ist, ob wir wirklich da weitermachen sollen, wo wir gerade aufgehört haben. Mit den Küssen."
„Dabei dachte ich, sie hätten dir gefallen."
„Oh ja, sehr." Schnell schlug ich mir die Hand vorm Mund. Sicher wurde ich gerade wieder rot wie eine Tomate.
„Wo ist also das Problem?", fragte Joel.
Ich stöhnte. Hatte er wirklich keine Ahnung, wie kompliziert ich die Situation gerade fand? Dann musste ich wohl wirklich komplett ehrlich sein.
„Wohin soll das führen?", fragte ich. „Zu einer Beziehung? Ist es das, was du willst? Ist so etwas überhaupt erlaubt? Ein Mensch und ein Schutzengel. So etwas hat es doch sicher nie gegeben. Und würde das überhaupt funktionieren? Und was ist, wenn wir doch irgendwann die Schnauze voll voneinander haben und wieder in alte Streit-Muster zurückfallen? Dann könnte alles schlimmer werden als zuvor. Aber wir könnten uns nicht einfach trennen, weil du schließlich auf mich aufpassen sollst. Und wenn du das nicht tust ..."
„Sterbe ich."
Ich nickte. Und das wollte ich mir wirklich nicht vorstellen.
„Warum lassen wir nicht einfach alles auf uns zukommen?", fragte Joel. „Was passiert, passiert. Wir wissen nicht, wie lange diese Aufgabe von Adriel Gültigkeit besitzt. Aber Fakt ist, dass ich gerade eh nicht auf dich aufpassen muss, sondern es vielmehr auch selbst will. Es fühlt sich nicht mehr wie eine Pflichtaufgabe an, weil du mir zu viel bedeutest."
Vermutlich hatte es zuvor noch nie jemand geschafft, mein Herz mit Worten dermaßen zum Schmelzen zu bringen. War ich vielleicht zu verkopft? Sollte ich eher auf mein Gefühl und mein Herz hören?
Stöhnend rieb ich mir über die Stirn. Das alles wurde mir langsam zu viel. Dieser Abend hatte es in sich. Erst wäre ich fast gestorben, dann hatte ich diesen atemberaubenden Flug erlebt, jetzt gestand mir Joel seine Gefühle und ich musste mir über meine eigenen klar werden. Was wirklich nicht einfach war.
„Vielleicht sollten wir erst einmal eine Nacht drüber schlafen, bevor wir irgendetwas entscheiden", sagte ich.
„Schlafen klingt gut. Am besten gemeinsam" Er zwinkerte mir zu.
„Du weiß genau, dass das nicht so gemeint war. Hör auf, so versaut zu denken."
„Ich habe doch gar nichts Schmutziges angedeutet. Du bist diejenige, die versaut denkt."
Ich verdrehte die Augen. „Fängst du schon wieder an, mich aufzuziehen?"
„Das ist alles liebevoll gemeint."
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Vielleicht könntest du fürs Erste damit aufhören und mich stattdessen nach Hause bringen. Das mit dem Schlaf habe ich nämlich ernst gemeint."
„Klar mache ich das. Fliegen oder Beamen? Was willst du?"
„Beim Fliegen könnte man uns sehen, oder?"
Joel nickte.
„Dann wäre wohl das andere die bessere Fortbewegungsmethode. Leider."
„Keine Sorge. Das heute wird sicher nicht unser letzter gemeinsamer Flug gewesen sein."
Das wünschte ich mir wirklich sehr. Die Frage war nur, wieso ich mir das so dringend wünschte. Wegen des Flugs? Oder um Joel nahe zu sein?
Verdammt, ich war echt dabei, mich in meinen Schutzengel zu verlieben. Das konnte nicht gutgehen, oder?
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10 Dinge, die ich an meinem Schutzengel hasse
FantasiaONC 2024: Nachdem Kaja nur knapp dem Tod entkam ist alles anders: Sie sieht auf einmal Schutzengel und erfährt, dass derjenige, der sie hätte beschützen sollen, seine Arbeit nicht richtig gemacht und sie fast dem Tod überlassen hätte. Sie macht sich...