Teil11

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Zhéi aß und trank wieder freiwillig, versuchte an meinem Laptop zu schreiben und kam in der Nacht zu mir ins Bett gekrochen. Es schien, als habe er wieder Hoffnung auf eine Zukunft geschöpft.

Ich hatte unterdessen genau recherchiert. Braille, wie man die Blindenschrift nach ihrem Erfinder nannte, konnte man an einigen Schulen erlernen. In Kalifornien gab es mehrere Braille-Institute und in Phoenix außerdem das FBC (Foundation for Blind Children), welches auch ein Erwachsenenprogramm anbot. Ich setzte mich mit beiden Instituten in der Hauptstadt in Verbindung.

Zhéi war natürlich ein Sonderfall, der nicht an den normalen Unterrichtseinheiten teilnehmen konnte. Beide Schulen waren skeptisch, ob sie mit seiner Doppelbehinderung zurechtkamen. Doch dann gab uns die FBC eine Chance, wir bekamen einen Vorstellungstermin.

Fünf Stunden Fahrt ist eine lange Zeit, um gründlich nachzudenken. Zhéi saß neben mir, taub, stumm und blind. Ich versuchte mir immer wieder vorzustellen, wie er sich wohl fühlen mochte. Die Augen konnte ich natürlich nicht schließen, doch alleine die Stille war erdrückend.

Früher verständigten wir uns per Handy App, ich hatte geredet, er getippt, doch diese Art der Kommunikation funktionierte jetzt nicht mehr. Zhéi musste sich verdammt einsam fühlen! Als hätte er meine Gedanken gelesen legte er plötzlich seine Hand auf meinen Oberschenkel und deren Wärme durchdrang den dünnen Stoff meiner Hose. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte mir sein entspanntes Gesicht mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Ich nahm die nächste Abfahrt und parkte. Zhéi nahm die Hand von meinem Bein und runzelte die Stirn.

Was ist los?

Ich möchte auch.

Auch?

Dich berühren.

Liebevoll strich er mir über die Nase - ich liebe dich - und zupfte mir anschließend am Ohrläppchen - willst du Sex?

Ich möchte dich aus deiner Einsamkeit reißen.

Ich bin nicht einsam, ich fühle deine Präsenz.

Es reicht nicht.

Es reicht nicht für ein Leben, aber es reicht für den Augenblick.

Ich drückte seinen Arm und fuhr weiter.

Diese kleine Unterhaltung war sehr mühevoll gewesen, immer wieder musste ich mit meinen Händen wiederholen, was ich wollte und er versuchte zu ertasten, was meine Hände sagten. Ich hoffte so sehr, dass das Lesen der Brailleschrift alles erleichterte.

Das Gebäude der FBC war riesig. Zhéi, der sich weiterhin weigerte, irgendwelche Hilfsmittel zu benutzen, hatte seine Hand auf meine Schulter gelegt und folgte mir mit einem halben Schritt abstand. Geschickt manövrierten wir um einige parkende Autos und gelangten ohne Unfall bis zum Eingang. Hier bemerkte man sofort, wofür das Institut stand:

Alle Informationstafeln waren mit der Braille-Schrift versehen und hingen in Augen bzw Tasthöhe. Im Eingang stand eine Miniaturausgabe des Geländes und auch hier gab es überall die kleinen Erhebungen, die von Blinden ertastet werden konnten.

Am Empfang erwartete man uns schon und führte uns in eins der Büros im oberen Stockwerk. Der Aufzug hatte eine Sprachausgabe, die Knöpfe waren in Braille gekennzeichnet und auch sonst gab es im Gebäude viele kleine Hilfsmittel. An den Wänden der Flure befanden sich schwarze Geländer und gaben Zhéi die Möglichkeit, eigenständig zu laufen.

Die Fußböden waren grau, die Wände im schlichten Weiß gehalten, die Türen schwarz umrahmt. Nirgends gab es unnötigen Wandschmuck, keine Bilder, nur weiße Wände. An jeder Wegkreuzung hing ein Übersichtsplan und kleine Kästen an der Wand erregten meine Aufmerksamkeit.

Auf meine Frage hin erklärte man mir, dass diese zur Sprachausgabe dienten. Sie speicherten Hinweise zu Neuerungen, Informationen oder Wegbeschreibungen und waren Hilfe für die Menschen, die die Braille Schrift noch nicht lesen konnten. Der schlichte schwarz/weiß Anstrich der Flure und Innenräume half den Menschen, die noch Kontraste unterscheiden konnten, bei der Orientierung.

Endlich hielten wir vor einer der Türen. Wir klopften an und als ein leises Piepen ertönte, traten wir ein. Hinter einem Schreibtisch saß eine ältere Frau die sich als Direktorin Dr. Smith vorstellte. Sie erhob sich und führte uns in einen Nebenraum in der eine gemütliche Sitzecke stand. Nachdem wir uns gesetzt hatten bot sie uns Getränke an. Ich nahm ein Glas Cola und stupste Zhéi an. Als ich seine Aufmerksamkeit erregt hatte drückte ich ihm das Glas in die Hand und trat ihm leicht gegen den Fuß.

Trink was.

Zhéi nahm einen Schluck, tastete dann nach dem Tisch und stellte das Glas sicher ab. Dr. Smith hatte uns genau beobachtet und wendete sich nun mir zu.

„Mrs Farmer, wie ich sehe, haben Sie schon einige Kommunikationswege gefunden, doch für unser Institut ist dies eine völlig neue Situation. Unsere Schüler, ob blind oder stark sehbehindert, können alle hören. Wir müssten für ihren Mann ein völlig neues Programm entwerfen und gemeinsam mit ihm lernen."Sie bat uns ihr vorzuführen, wie wir uns zurzeit verständigen. Zhéi benutzte ganz einfach die Gebärdensprache so wie sonst auch. Dann zeigte ich die weitaus schwierigere Art und Weise, wie ich ihm Sachen erklärte. Ich stellte mich ihm gegenüber und ließ ihn meine Hände ergreifen. Dann bat ich Dr. Smith, eine Frage zu stellen.

„Mr Farmer, wo leben Sie?"

Ich hob meine rechte Hand zum Mundwinkel, flatterte zweimal kurz damit und zuckte dann mit den Schultern wobei ich gleichzeitig die Arme leicht ausbreitete, die Handflächen nach oben zeigend.

Zhéi wiederholte die Geste:

Wo wohnst du?

Ich klopfte einmal auf seinen Handrücken.

Richtig.

Diese Geste gab es so nicht in der Gebärdensprache, die hatten wir entwickelt, um schnell einmal ja oder nein zu sagen.

Ich wohne in einem Hogan in der Nähe von Window Rock.

„Fragen Sie ihn, ob er lesen und schreiben kann."

Ich verdrehte innerlich die Augen, nahm aber seine Hände und machte die entsprechenden Gesten. Zhéi kratzte sich kurz am Kopf.

Kannst du mir etwas vorlesen?

Ich klopfte zweimal auf den Handrücken.

Nein

Ich wiederholte die Gesten langsamer.

Kannst du Lesen und Schreiben?

Ja

Ich konnte beides, bevor ich erblindete. Ich erlerne das Schreiben auf einer Tastatur.

Ich übersetzte jede einzelne Geste und Dr. Smith schien beeindruckt.

„Es gibt Gesten, die nicht so leicht zu unterscheiden sind, besonders, da er mit der rechten Handfläche nichts ertasten kann, sie ist ja völlig verstümmelt. Darum wäre es für uns eine große Erleichterung, wenn er die Braille Schrift erlernen könnte. Ich habe mich schon erkundigt, es gibt Computerprogramme, die eine normale Schrift in Braille umwandeln und Drucker, die diese ausdrucken können. Bitte, helfen Sie uns!"

„Wirklich eine Herausforderung! Ich werde mit unseren Lehrern darüber beraten und Ihnen dann mitteilen, wie wir entschieden haben."

Wir verabschiedeten uns und machten uns - ich hoffnungsvoll, was Zhéi dachte, wusste ich nicht - wieder auf den Heimweg.

Wenn die Seele zerbrichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt