Teil20

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Noch drei Monate...

Dann war das versprochene halbe Jahr vorbei und er würde entscheiden, ob es eine Zukunft für ihn - nein - für uns geben würde. Ich hoffte so sehr, dass er für das Implantat geeignet war, dass er wieder hören konnte, dass es ihm gefiel und dass er wieder Spaß an seinem Leben hatte! Wie fühlte man sich, wenn einem nur zwei Sinne blieben? Wenn man nur fühlen und riechen konnte? Wenn ich ehrlich zu mir selbst war musste ich zugeben, dass es mir nicht ausreichen würde.

Wir bekamen unseren Termin im Barrow Neurologiezentrum recht zügig und wieder einmal mietete ich mir mit dem Camper einen Parkplatz. Die ersten Untersuchungen verliefen positiv und schon bald war Zhéi bereit für den Eingriff. Wie klein und bleich er in dem Krankenbett doch aussah.

Hast du Angst?

Meine einzige Angst ist, hier im Krankenhaus zu sterben und nicht zu Hause.

Das wirst du nicht. Und sollte irgendetwas passieren, dann hole ich dich hier raus und bring dich nach Hause.

Diese Zusage schien ihn zu beruhigen. Überhaupt wirkte er in allem ziemlich gelassen. Ich hatte versucht mit ihm darüber zu reden, herauszubekommen, ob seine Navajo-Erziehung ihm nicht im Wege stand, doch seine Antwort hatte mich mehr verwirrt als beruhigt.

Ich habe 40 Jahre den Weg der Zeremonien und des Hózhó verfolgt und er hat mir immer geholfen mein inneres Gleichgewicht zu finden. Jetzt ist mein Leben mit deinem verbunden. Du hast mir alles gegeben. Du hast deine Heimat und deine Familie für mich verlassen. Und jetzt bist du verstört, du hast Angst! Das habe ich niemals gewollt. Ich wollte dein Mann, dein Beschützer, dein Fels und dein Geliebter sein. Das kann ich so nicht mehr sein. Es schmerzt. Doch es schmerzt weitaus mehr, dich leiden zu sehen. Darum gehe ich jetzt den Weg, den du mir zeigst. Ich vertraue dir.

Ich verstand nur so viel, dass er das Ganze mir zuliebe tat und ich hoffte inständig, dass ihm das Ergebnis gefallen würde. Siebzigtausend Dollar würde die Behandlung kosten, das war gerade so viel, wie ich noch auf der hohen Kante liegen hatte. Alle Zusatzkosten, wie das Hörgerät, welches noch einmal zehntausend kosten würde, musste ich dann aus meiner Rente bestreiten. Doch es war möglich! 

Während die Ärzte die Operation vornahmen, wanderte ich nervös durch die Straßen. Es war ein relativ kleiner Eingriff der nicht nur ambulant, sondern auch in weniger als einer Stunde durchgeführt wurde. Danach passierte zuerst gar nichts. Die Wunden mussten heilen und das Implantat vom Körper angenommen werden. Wir würden noch ein paar Tage in Phoenix bleiben falls Komplikationen auftraten und dann wieder nach Hause fahren.

Als der Anruf kam, stand ich am Eingang der Klinik und drückte hastig meine Zigarette aus. Zhéi war schon wieder wach und nickte, als ich ihn am Haar zupfte.

Ich lebe noch

Ich nahm seine Hand und strich liebevoll über deren Innenfläche.

Ich würde dich jetzt am liebsten abknutschen, doch wir sind nicht allein.

Zhéi lächelte. Jetzt fuhr sein Daumen über meine Hand.

Wären wir allein, ich würde dich zurückknutschen.

So eine lautlose Kommunikation hatte enorme Vorteile und ich würde sie auf jeden Fall beibehalten, auch wenn Zhéi wieder hören konnte. Ich betrachtete den Verband hinter seinem linken Ohr. Das rechte war für das Implantat nicht geeignet gewesen, dort waren zu viele der Hörnerven geschädigt. Man hatte nur ein klein wenig seiner Haare wegrasiert, dort klebte jetzt ein Pflaster. Zhéi hatte sich nicht über die OP aufklären lassen und alles in meine Hände gelegt. Darum wusste ich, dass die Ärzte ein kleines Stück Knochen entfernt hatten um das Implantat zu legen. Auf mein Nachfragen, ob alles in Ordnung sei, winkte mein Mann ab.

Mach dir keine Sorgen. Ich habe Schlimmeres überlebt!

Das hatte er tatsächlich! Vor über 40 Jahren, als sein Haus abbrannte und er seine Kinder retten wollte, wurde er von brennenden Balken begraben, hatte starke Brandwunden im Gesicht, am Arm und im Intimbereich erlitten sowie mehrere Schnittwunden an Armen, Beinen und am Kehlkopf. Seitdem war er taub und stumm, hatte sich aber irgendwann mit seinen Einschränkungen arrangieren können. Am Abend konnte ich Zhéi mitnehmen, drei Tage später gab es eine Nachuntersuchung und dann hieß es wieder warten...

Etwas hatte sich in unserem Zusammenleben geändert. Zhéi wendete sich mir wieder liebevoll zu und überraschte mich mit Handlungen, die ich längst vergessen glaubte. Manchmal stellte er sich hinter mich, griff unter mein Shirt und liebkoste meine Brüste während er meinen Hals küsste. Manchmal nahm er mich spontan in den Arm und manchmal berührte er mein Gesicht und tastete es liebevoll ab. Die Nächte wurden wieder lebendiger und manchmal fragte ich mich, ob es ein Zeichen des Abschieds oder des Neuanfangs war.

Zwei Wochen später ging es zurück nach Phoenix. Wir wurden herzlich vom Personal der Klinik begrüßt und während Zhéi in das Untersuchungszimmer gebracht wurde, schickte man mich für zwei Stunden in die Cafeteria. „Mrs Farmer", hatte man mir gesagt, „Sie werden für die nächste Zeit nicht gebraucht. Ihr Mann wird jetzt erstmalig wieder etwas hören und unser Akustiker braucht Zeit und Konzentration um alles richtig einzustellen. Wir rufen Sie an, wenn wir hier fertig sind. Gehen Sie in unser Café oder draußen spazieren. Erfahrungsgemäß dauert die Einstellung mindestens zwei Stunden."

Ich hatte mich in mein Schicksal ergeben und war an die frische Luft gegangen, doch meine Gedanken weilten bei Zhéi. Wie es wohl war, nach über 40 Jahren wieder etwas zu hören? Er hatte mir mit keiner Mine mitgeteilt, wie es ihm ging. Er hatte mich gebeten, ihn nicht mit Fragen zu quälen und ich hatte mich seinem Wunsch gebeugt. Ob er aufgeregt war? Oder Angst hatte? Ich wusste es nicht, betete aber darum, dass das Hören ihm Lebensqualität zurückgab.

Zwei Stunden können verdammt lang sein. Als mein Telefon klingelte zuckte ich zusammen und ließ es vor Aufregung fast fallen. Mit beherrschter Eile betrat ich die Klinik und rannte die drei Stockwerke hinauf bis zum Untersuchungszimmer. Schweiß rann mir den Nacken hinunter und ich wartete ein paar Sekunden, bis mein Atem sich beruhigt hatte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals als ich die Tür langsam öffnete. Zhéi saß aufrecht auf einem der Stühle und hatte die Augen geschlossen. 

Wenn die Seele zerbrichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt