Teil18

6 2 6
                                    

Am Abend brachte ich Zhéi zurück zum Institut.

In der ersten Woche hatte er lesen und schreiben gelernt, in der kommenden Woche wollte man mit ihm das Zusammensein mit anderen Menschen trainieren. Er würde an Gruppentherapien teilnehmen müssen; auf dem Plan stand Kochen und Schwimmen, Reiten und Spielen. Er würde mit seiner Begleiterin das Einkaufen und andere Aktivitäten des täglichen Lebens üben. Sie wollten sogar mit dem Bus fahren und den Flughafen aufsuchen.

Zhéi würde diese Einheiten hassen! Als Navajo liebte er die Einsamkeit und mied Menschenmengen, außer bei Zusammenkünften der Familie. Er konnte und durfte das Programm des FBC aber nicht frühzeitig beenden, wir hätten die Kosten sonst selbst tragen müssen. Weiterhin bekam ich mehrere Briefe am Tag. Über seinen Therapieeinheiten verlor er kein Wort, er erzählte mir lieber aus seinem Leben.

Sheʼatʼééd       Mutter und Vater lebten zurückgezogen. Schafe und ein Garten ernährten sie. Am Hogan gab es einen Fluss der heute ausgetrocknet ist, so wie die Tradition austrocknete durch den Einfluss der Zivilisation. Die Familie wusste, wo sie wohnten. Meine Geschwister starben nach der Geburt. Ich wurde in einem Krankenhaus geboren. Darum sind wir registriert worden. Doch man vergaß uns wieder. Ich lernte vom Vater unser traditionelles Leben.           Z

*

Sheʼatʼééd          Den Weißen, die alles notieren, fiel auf, dass ich in keiner Schule war, aber sie fanden unseren Hogan nicht. Es gab keine Straße, die Pferde brachten uns von einem Ort zum anderen. Es war auf einem Familienfest. Sie kamen und wollten mich mitnehmen. Der Vater versprach, mich zur Schule zu schicken. Ab dem Zeitpunkt lief ich täglich die zwei Meilen bis zur Straße, der Bus holte mich und fuhr mich zur Schule. Ich weiß, du möchtest Zahlen wissen. Ich war 9 Jahre.  Der Weg zur Schule war schön. Ich lief ihn gerne, immer der aufgehenden Sonne entgegen.            Z

*

Sheʼatʼééd               Die Schule war eine Herausforderung. Unsere Lehrer waren Weiße. Die Kinder sprachen englisch. Ich hatte die Sprache nie zuvor gehört. Aber ich war fleißig, habe gelernt, Englisch, Lesen, Schreiben und die Geschichte Amerikas. Ich wurde barking dog, der Vermittler.           Ayor anosh'ni (Ich liebe dich)

Es war Donnerstag, als ich folgenden Brief erhielt:

Sheʼatʼééd       Ich spüre deinen Schmerz. Ich spüre deine Angst. Ich spüre deine Hilflosigkeit. Es ist unrecht von mir, dir dies nicht zu erlauben. Du hast mir einmal gesagt, du musst über deine Gefühle reden. Du bist du. Das nächste Wochenende gehört nur dir. Ich bin mit mir im Gleichgewicht. Du bist im Ungleichgewicht. Wir werden reden. Ich werde dich halten. Ich werde bei dir sein. Ich verrate dir ein Geheimnis: Dein Nilpferd liegt bei mir im Bett. Ich freue mich darauf, dich im Arm zu halten. Ich freue mich darauf, Zeit mit dir zu verbringen. Ich will ehrlich sein: Die Option, jederzeit dieses Leben verlassen zu können, gibt mir die Gelassenheit. Ich danke dir für dein Versprechen, mich loszulassen, wenn es soweit ist.

Phu, das ging mir echt unter die Haut. Er hatte genau den Finger auf den Punkt gelegt, der mir zu schaffen machte: Was war, wenn er es nicht mehr aushalten konnte? Wenn er seinen Entschluss in die Tat umsetzte und mich verließ? War ich egoistisch? Ich konnte es ja verstehen, ich würde vielleicht genauso handeln, ich wollte ihm auch diese Option nicht nehmen. Doch es belastete mich so sehr. Täglich hatte ich die Angst, ihn nie wieder zu sehen. Täglich stellte ich mir ein Leben ohne ihn vor. Es würde guttun, in seinen Armen zu liegen und doch würde es schmerzen. War das Wiedergutmachung? Loslassen?

Sollte ich jetzt schon anfangen alles aufzuschreiben? Eigentlich hatte er doch schon all meine Gefühle in Worte gefasst. Freitagabend holte ich meinen Mann wieder ab und fuhr zurück zu meinem Stellplatz. Während Zhéi draußen Bank und Tisch aufbaute, kochte ich uns eine Kleinigkeit. Noch war es nicht die Zeit, über meine Gefühle zu reden.

Wenn die Seele zerbrichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt