Teil16

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Briefe

liebe karaicj soll schreibev. mal nich faekkt es mir schwer dir richtig buchstaben zu finden               z

Lieber Zhéi, ich freue mich, wenn wir uns am Wochenende sehen.            K

liebe kara ich uebe taeglivh. Meine fingerkuppen sind weivh geworden und ich kann deine briefe immer besser lesen.        z

Geliebter Zhéi, deine Schrift wird viel besser, du verwechselst noch das c mit dem v. Ich weiß, ab morgen hilft dir niemand mehr dabei, meine Briefe zu lesen. Darauf freue ich mich.      K

Liebe Kara, Ich habe beschlossen, dir ein wenig aus meinem Leben zu erzählen. Vielleicht wird es nur ein kurzer Brief, vielleicht auch mehr. Zhéi

Geliebter wunderbarer Mann            Ich liebe es, wenn du mir aus deinem Leben erzählst. Ich weiß so wenig von dir. Ich habe dir von mir so viel erzählt und weiß jetzt nicht, was ich dir noch schreiben soll. Hast du Fragen?      In Liebe, K

Schreib mir, was dich bedrückt.

Geliebter, ich möchte von meinen Schuldgefühlen erzählen. Ich kriege sie einfach nicht los! Ich weiß, du denkst da ganz anders als ich, du hast andere Erwartungen und Lösungen. Ich brauche es, dass du mir verzeihst! Es quält mich, dass ich dich im Flussbett im Stich gelassen habe, es quält mich, dass ich dich gezwungen habe, dich anzuschnallen und es quält mich, dass ich dir nicht vertraut habe. Wie kann ich dir alles wieder gut machen? Bitte, bitte, vergiss einmal deine Erziehung und antworte mir.

Ich verzeihe dir. Es war keine böse Absicht, nur deine Unwissenheit. Ich könnte mich schuldig fühlen, weil ich dich überfordert habe, weil ich dich über das schwierige Gelände habe fahren lassen. Wie sagen die Weißen? Wir sind quitt. Ich habe mir selbst verzeihen können indem ich meine Schuldgefühle ausschwitzen konnte. Vielleicht hilft dir die christliche Beichte?

Geliebter, mir tut es gut, dass du so verständnisvoll bist. Eine Beichte ist nicht nötig, ich habe kein Unrecht getan. Das weiß ich jetzt. Mit deinem Brief hast du mir sehr geholfen. Kann ich noch etwas für dich tun? Hast du weitere Fragen? Deine Kara

Ich habe keine Fragen. Du weißt, was ich liebe.

Ja, ich wusste, was er liebte: das Land und die Natur, den Duft des Windes und der Pflanzen, die Kühle des Wassers und die Hitze der Sonne. Er liebte die Farben des Sonnenaufgangs und die des Sonnenuntergangs.

Ich machte Ausflüge in die Umgebung und berichtete ihm von dem, was ich sah: grauer Sand, graue Felsen, blühende Kakteen und kleine Bäche, die sich durch den felsigen Grund schlängelten.

Täglich sprach ich im Institut vor, nahm seine Briefe in Empfang und gab die meinigen ab. Abends dann setzte ich mich vor den Camper und las, was er geschrieben hatte:

Sheʼatʼééd

Ich musste die Anrede in meinem Wörterbuch nachschlagen: Liebling, Geliebte, Liebes. So nannte er mich? Mir wurde ganz warm ums Herz.

Sheʼatʼééd  Das Schreiben ist das Einzige, was mir bleibt. Der Vater erzählt den Kindern die Geschichten - ich habe keine Kinder und kann auch nicht erzählen, ich muss es aufschreiben. Ich kenne deine Ungeduld, du wirst nicht lesen wollen, wie erster Mann und erste Frau zusammenkamen, du willst nicht wissen, wie wir die erste Welt verließen und du weißt genug von der Geschichte der Diné, als dass ich sie ständig wiederholen muss. Ich möchte aus meinem Leben erzählen, auf meine Weise. Zhéi

*

Sheʼatʼééd Ich möchte berichten, wie ICH den rechten Weg verließ: Ich hatte versagt. Ich konnte Frau und Kinder nicht schützen. Ich wuchs mit der Erziehung der Diné auf, gleichzeitig bekam ich in der Schule die Erziehung der Weißen. Die Diné sagen: Hast du versagt, gestehe es ein, reinige dich, fange neu an. Die Weißen sagen: Es ist deine Schuld, du musst dafür bestraft werden. Ich wählte den Weg der Weißen, ich geißelte mich mit Vorwürfen und versank in der Dunkelheit.             Zhéi

*

Sheʼatʼééd, Die Dunkelheit war nicht zu ertragen. Sie musste verscheucht werden. Ich wählte das Mittel der Betäubung. Es hieß Alkohol. Geld, ich brauchte Geld, um das Mittel zu bezahlen. Ich verkaufte das Grundstück, auf dem die verbrannte Ranch stand. Ich verkaufte die Pferde. Ich verkaufte meine Seele.      Zhéi

*

Sheʼatʼééd,    Die Dunkelheit wich nicht. Aber sie war erträglich. Ich wusch mich nicht mehr. Ich hatte keine Kleidung mehr. Ich saß am Straßenrand und trank. Ich schlief, wo ich saß. Ich lernte, was „egal" bedeutet. Alles war egal: die Welt, die Menschen, ich.         Zhéi

*

Sheʼatʼééd, Meine Bauchfistel entzündete sich und schmerzte, es war egal. Manchmal brachte mich Fingerfood in die Krankenstation. Dort wurde ich gesäubert und bekam einen neuen Katheter. Ich schämte mich. Fingerfood nahm mich mit und gab mir ein Zimmer. Der Alkohol ließ mich böse werden. Ich betrog meinen besten Freund. Das Feuer der Scham und des Versagens brannte in mir. Ich ging wieder auf die Straße.              Zhéi

*

Sheʼatʼééd     Es wurde Winter. Der Alkohol wärmte. Fingerfood kam wieder und gab mir Unterkunft. Ich schämte mich und trank, um die Scham zu vergessen.      Zhéi

*

Sheʼatʼééd         Ich erwachte. Ich lag in Kot und Erbrochenen. Ich konnte nicht aufstehen. Ich konnte nicht Schreien. Ich konnte nichts, ich war ein Niemand, ein Versager. Ich konnte mich aufhängen. Wieder kam mein Freund Fingerfood. Er fasste mich am Schopf und brachte mich weg. Zu einem Schamanen. Ich wusste nicht, ob es gut war.           Zhéi

*

Sheʼatʼééd         Es gab keinen Alkohol mehr. Es gab Schwitzbäder. Es gab den Rauch des heiligen Salbeis. Ich konnte nicht hören, was der Schamane sagte. Ich konnte fühlen, wie die Scham verging. Ich konnte die Trauer über den Verlust der Kinder spüren. Ich konnte wieder beten. Ich konnte mich bedanken. Ich konnte neu anfangen.         Zhéi

*

Sheʼatʼééd         Der Schamane und ich lernten gemeinsam die Gebärdensprache. Ich war nicht allein. Ich öffnete mich wieder. Die Familie kam und gab mir Kraft und Geborgenheit. Ich gab Wiedergutmachung. Ich half den Bedürftigen. Ich half bei den Kindern. Wir alle lernten die Sprache der Taubstummen. Ich verzieh mir. Nach einem Jahr war ich wieder ich.        Zhéi

*

Sheʼatʼééd,         mir erging es wie dir jetzt. Ich fühlte mich schuldig am Tod meiner Kinder, du fühlst dich schuldigfür meine Behinderung. Sich selbst verzeihen ist Größe! Ich hätte mein Leben für das der Kinder gegeben. Ich wünschte mir auch, dass Marie zu mir zurückkommt. Das sie geheilt wird. Marie wollte nicht geheilt werden. Steht ihr Glück über dem meinem? Steht dein Glück über dem meinen? Steht mein Glück über dem deinen? Ich weiß es nicht.         Zhéi

Ich war erstaunt und auch gerührt, soviel hatte er mir noch nie von seiner Schattenseite erzählt. Ich wusste, dass er nach dem Brand seines Hauses dem Alkohol verfallen war, ich wusste auch, dass er sich wieder loskämpfen konnte. Nur von Scham und Versagen, von Angst und Trauer hatte er kein Wort erzählt.

Und er tat noch mehr: Er gab mir zu verstehen, dass er meine Gefühle nachvollziehen konnte, dass er ähnliches erlebt hatte. Er sagte mir, dass er auch mich und nicht nur sich im Blick hatte.

Ich ging nicht auf seine Briefe ein, er erzählte, ich hörte kommentarlos zu. So war es Diné. 

Wenn die Seele zerbrichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt