Teil27

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Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die zwei Männer. Aus dem kleinen ungeschickten Samuel war ein selbstbewusster Rancher geworden. Kein Wunder, dass er so eng mit Zhéi befreundet war, der schon als Kind das gemacht hatte, was er für gut hielt, ungeachtet der Konsequenzen die er dafür erleiden musste. Vor 200 Jahren wäre mein Mann vielleicht ein Häuptling geworden.

Ich musste grinsen, als ich mir die zwei als Krieger vorstellte: hoch zu Ross, bekleidet mit Lendenschurz und Federhaube, den Bogen in der Hand. Insgeheim schallte ich mich eine Närrin. Die Navajos waren die letzten Jahrhunderte Bauern gewesen, und hatten ihr Land eher mit der Mistgabel als mit Pfeil und Bogen verteidigt.

Fingerfood saß mit dem Rücken zu mir und ich konnte nicht hören was er sagte, doch Zhéis Zeichen sah ich deutlich. Sie unterhielten sich über Pferde.

Ich legte mein Buch zur Seite und griff zum Handy. Am Morgen war ich zum Briefkasten gefahren und hatte alle Apps aktualisiert. Jetzt hatte ich die Muße, zu schauen, was in der Welt da draußen so los war. Wir hatten hier am Hogan noch immer kein Internet oder Telefonempfang, erst an der Straße beim Postkasten funktionierte beides ohne Probleme. Meine Familie hatte Bilder gepostet und in Deutschland gab es mal wieder eine Debatte darüber, was kulturelle Aneignung war und was nicht.

Plötzlich vibrierte mein Smartphone heftig, ein Alarm der von meinem Kalender ausgelöst wurde den ich so gut wie nie gebrauchte. Lediglich Geburtstage wurden mir dort angezeigt und ich hatte die App ziemlich nach hinten verschoben. Ich öffnete die Notiz und für einen Moment setzte mein Herz aus.

Ende

Einfach nur Ende hatte ich eingetragen und auf den morgigen Tag datiert.

Ende.

Das halbe Jahr war vorbei und morgen würde Zhéi sich neu entscheiden, was er aus seinem Leben machen wollte. Kurz schloss ich die Augen und unterdrückte mühevoll ein Zittern.

Ende

Was für ein gemeines Wort!

Ich hatte mich die letzten Wochen so sehr davon distanziert, dass dieses Datum mir glatt entfallen war und nun traf mich die Erinnerung daran ganz unvorbereitet. Tief durchatmen! Verdammt, Zhéi war doch die letzte Zeit so glücklich gewesen, er würde doch jetzt nicht aufgeben? Ich schielte durch die halboffenen Augenlider zu ihm rüber.

Ich danke dir mein Freund. Es tut gut, dich an meiner Seite zu wissen und ich weiß, dass du alles richtig machen wirst

sagte er gerade mit seinen Händen und ich fragte mich, ob es immer noch um Pferde ging. Fingerfood antwortete etwas.

Sie wird mich nicht umstimmen können. Es ist wie es ist! Sie wird es verstehen. Sie hat es versprochen.

Was hatte ich versprochen? Redete er von morgen?

Ich gebe dir das Schriftstück zur Aufbewahrung.

Zhéi reichte dem Freund einen Zettel. War das etwa sein Testament? Ich musste heftig schlucken. Jetzt einen Schnaps! Wir hatten natürlich keinen Alkohol im Haus und die Idee was zu trinken war mir nur spontan gekommen, ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Furcht. Ich schaute wieder rüber zu den Männern, doch die spielten nun irgendwas und ihre Unterhaltung war belanglos geworden.

Verdammt, was sollte ich denn jetzt machen? So tun, als sei nichts? Ihn ansprechen? Ich beschloss zu Bett zu gehen. Vielleicht schlief ich schon, wenn Zhéi zu mir kroch und ich brauchte keine Fragen zu beantworten. Natürlich funktionierte es nicht. Ich hatte solche Angst das er sich umbringt und fühlte mich wieder schuldig an seiner Blindheit das ich mich nicht beherrschen konnte.

Ich weinte still vor mich hin und als Zhéi zu mir kam und mir über den Rücken strich, kroch ich ganz nah an ihn heran. Er berührte meine Wangen, wischte die Tränen weg, nahm mich in den Arm und streichelte mich sanft.

Ach Zhéi, bitte, bitte verlass mich nicht. Es ging dir doch so gut die letzten Wochen. Ich will nicht egoistisch sein, ich habe es dir versprochen, aber es tut so weh. Halt mich, nimm mich mit, lass uns zusammen gehen!, meine Gedanken ließen mich immer wieder zusammenzucken und Zhéi war da und fuhr beruhigend mit seiner Hand über meine Haut. Er schien genau zu wissen, was in mir vorging und ich glaubte zu wissen, was er jetzt dachte.

Am Morgen hatte ich mich beruhigt. Ich saß vor unserem Hogan in der Sonne und beobachtete Zhéi, der sich mit den Pferden beschäftigte. Er trug ein Lächeln auf den Lippen und pfiff vor sich hin. Weil er eine Entscheidung getroffen hatte? Weil er erleichtert war, gehen zu dürfen? Ich zog mich in den Hogan zurück und hantierte sinnlos mit dem Kochgeschirr. Als sich die Türöffnung verdunkelte drehte ich mich um. Zhéi pfiff leise und ich trat auf ihn zu, steckte ihm eine Haarsträhne unter sein Stirnband und strich ihm über die Nase.

Ich möchte reiten - allein

Seine Bewegungen waren locker und geschmeidig, als würde er sich auf etwas freuen.

„Ich lasse dich gehen."

Er lehnte seine Stirn an die meinige und unsere Nasen berührten sich liebevoll. Meine Hände wollten sich in seinem Shirt festkrallen, ihn nie mehr loslassen, aber ich hatte es versprochen!! Dann ließ er mich abrupt los und tastete sich nach draußen. Nicht weinen, locker bleiben, ihm das Gefühl geben, es sei ok für mich! Scheiße, warum nur war es so schwer, ihm sein Glück zu lassen??

Durch die offene Tür beobachtete ich, wie er sich Donner einfing und mit Hilfe des Zauns auf dessen nackten Rücken stieg. Ohne sich umzublicken ritt Zhéi davon. Mit tränennassen Augen sah ich ihm nach, dies war wohl der Abschied für immer gewesen... All meine und auch seine Bemühungen hatten nicht ausgereicht, ihm ein sinnvolles Leben zu geben.

Verdammt, verdammt, verdammt!!!

Es tat so weh, so furchtbar weh! Ich hatte das halbe Jahr genossen, so gut es ging, und ganz tief im Inneren hatte ich gehofft, dass er die Zeit verlängern würde.

Fuck, Scheiße! Er hatte alles Recht der Welt dazu, mich und die Erde zu verlassen, doch nur weil ich es verstand hieß es noch lange nicht, dass ich es schmerzlos hinnahm!! Ich wollte nicht weinen, nein, schnell wischte ich die Tränen weg, die meine Wangen benetzten. Zhéi, verdammt, warum? War das letzte halbe Jahr nicht schön? Wir haben so viel erreicht, so viele schöne Sachen erlebt und wunderbare Stunden miteinander verbracht. Warum nur habe ich dir versprochen, dich gehen zu lassen? Warum habe ich dich nicht aufgehalten? Warum habe ich überhaupt zugelassen, dass mein Leben an dem deinigen hängt???

Ich griff nach dem Messer, welches auf dem Herd lag. Bei jedem meiner Gedanken nahm ich eine Haarsträhne und säbelte sie ab. Ein Ritual der Navajos bei großem Verlust und Trauer. Als mein Kopf kahl war ließ ich hilflos meine Hand sinken.

Was sollte ich denn jetzt machen? Packen und nach Deutschland zurückfahren? Hierbleiben und so tun, als wäre alles in Ordnung? Nein, nein! Das alles machte doch keinen Sinn für mich! Was war ein Leben ohne ihn?

Ich starrte auf das Messer in meiner Hand.

Wenn die Seele zerbrichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt