Kapitel 20

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Seit fast einer Woche verbrachte Jonael seine wachen Stunden zumeist mit seiner Mutter und durchforstete gemeinsam mit ihr die Chroniken von Tyrasar. Dabei erfuhr er viel Neues, Wissenswertes, doch die entscheidende Information blieb verborgen.

Mit jedem Tag, der verstrich, nahm er wahr, wie sich Raven veränderte. Nun geschah es nicht mehr plötzlich und verschwand wieder. Es war zu etwas geworden, das Jonael jetzt immerzu in seinem Gefährten spürte. Was auch immer es war, es nahm seinem Liebsten Stück für Stück die Emotionen. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit und Jonael wusste nicht, ob sie ihn gewinnen würden.

Am Ende konnte er Raven für immer verlieren und mit jeder Stunde, die verging, machte es diesem weniger aus.

Noch machte es seinem Mann Angst, doch bald schon würde es sein, wie damals in der Heileinrichtung, als alles, was er tat, nur rational war, ohne jegliche Gefühlsregung.

Wie sollte er nur weiterleben, wenn er die Liebe dieses wundervollen Mannes für immer verlor?

Schluchzend sank er auf dem Stuhl, auf dem er saß, zusammen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

In Sturzbächen liefen ihm die Tränen über die Wangen. Er wollte sich zusammenreißen, musste weitermachen, doch gegen diese Wellen an Traurigkeit, die über ihm zusammen schlugen, ihn mit sich fortzureißen drohten, kam er nicht an.

Sein Weinen hallte von den Felswänden um ihn wieder. Hier, in diesen Hallen, so abgeschottet von allem und jedem, konnte er sich gehen lassen, musste keine Maske zur Schau tragen. Wenn er hier war, dann drang nichts von außen zu ihm durch und nichts von innerhalb gelangte hinaus. Auch Raven spürte er kaum, es war nur wie ein schwaches Echo in seiner Seele.

Zuvor wäre es ihm unmöglich gewesen, diese Trennung über Stunden zu ertragen, doch nun war er schon fast dankbar, denn er musste diese Anspannung loswerden, konnte sie nicht mehr in sich verschließen und wollte auch nicht, dass sein Liebster es mitbekam.

Raven machte sich ohnehin zu viele Gedanken und Vorwürfe, obwohl das in Jonaels Augen nicht nötig war. Es geschah etwas in ihm, doch das war nichts, was sich Raven wünschte.

Im Moment befand er sich bei Cebrail und Samael, die sich mit ihm gemeinsam die Schriften in Shekinahs Haus ansahen. Diesen beiden vertraute er, bei ihnen war Raven sicher.

Unwirsch wischte er sich über die Augen, raufte sich die Haare, wollte zu gern laut aufschreien, doch unterdrückte dieses Bedürfnis, da seine Mutter jederzeit zurückkommen konnte und vor ihr wollte er nicht zeigen, wie verzweifelt er war, auch wenn sie es wahrnehmen konnte.

Eine warme Hand auf seiner Schulter ließ ihn vor Schreck heftig zusammenzucken. Er fuhr herum, bereit sich zu verteidigen, doch es war kein Angreifer, sondern Shekinah, die ihn betrübt lächelnd ansah, sich neben ihn kniete und ihre Arme um ihn legte. Er hatte sie nicht kommen hören.

Nun war alle Zurückhaltung dahin, die schützenden Wälle in ihm brachen, ließen all die Gefühle frei, die er so sorgsam in sich verborgen gehalten hatte. Laut weinend drückte er sich an seine Mutter, klammerte sich an sie.

Am ganzen Körper bebend presste er sich an sie.

Sie wusste, wie es in ihm aussah, erkannte es sicherlich schon vor Tagen und doch ließ sie ihm die Zeit, denn sie wusste, wie viel Überwindung es ihn kostete, gegenüber jemand anderem einzugestehen, wie groß seine Sorgen waren.

»Oh, Mutter, ich werde ihn verlieren, er wird mir entgleiten und ich kann nichts tun, bin machtlos. Wieso führte man ihn erst zu mir, nur um ihn mir auf die grausamste aller Arten zu entreißen?«, brachte er hervor, als die Tränen langsam versiegten. »Ich werde ihn sehen, immerzu und ihn lieben, doch er wird für mich nichts empfinden, wenn die Veränderungen weiterhin in diesem Tempo voranschreiten. Ich weiß nicht, ob ich das ertragen kann.«

The Tyrasar Chronicles II - HerzensruneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt