Kapitel 22

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Eine Bewegung neben ihm brachte Jonael dazu, die Augen zu öffnen. Wohlig räkelte er sich.

Noch immer schien sein ganzer Körper von den Erinnerungen an die letzte Nacht zu vibrieren. Obwohl sie sich noch nicht vollkommen vereinigt hatten, waren sie sich so verdammt nahe gewesen, das Jonael am liebsten laut geseufzt hätte, als er daran zurückdachte.

Als er nun, nachdem er zu seinem Gefährten aufgesehen hatte, dessen Gesicht erblickte, durchlief ihn ein kalter Schauer und vertrieb all das Schöne, das ihn zuvor erfüllt hatte.

Kein Lächeln umspielte Ravens Lippen, kein verliebter Ausdruck lag in diesen so schönen und sanften Augen.

Ohne ein Wort wandte sich Jonaels Gefährte von ihm ab und war im Begriff aufzustehen.

»Möchtest du nicht noch einen Augenblick bei mir liegen bleiben, wir könnten kuscheln?«, sagte er leise, traute seiner Stimme nicht, denn er fürchtete sich davor, was Raven erwidern würde.

»Nein«, war die tonlose Antwort. »Durch die unnötigen Ereignisse der vergangenen Nacht haben wir schon viel zu viel Zeit verschwendet, die wir sinnvoller hätten einsetzen können.«

Diese Worte trafen Jonael hart. Es fühlte sich für ihn an, als würde man ihm ein stumpfes Messer direkt ins Herz treiben. Verschwendete Zeit? War es das für Raven?

Bevor er etwas erwidern konnte, stand Raven auf, nahm sich frische Kleidung und verließ den Raum Richtung Badezimmer.

Ein Schluchzen entkam ihm, das er dadurch dämpfte, dass er seinen Kopf tief im Kissen vergrub.

Er wusste, dass Raven das nicht sagte, um ihn zu verletzen, dass es für diesen einfach das richtige war und doch konnte er nicht verhindern, dass es ihm zusetzte.

Für einige Minuten ließ er seinen Tränen freien Lauf. Trauer setzte sich in seiner Seele fest, denn schon jetzt fühlte er sich einsamer als jemals zuvor, obwohl sich sein Liebster nur wenige Meter von ihm entfernt aufhielt.

Mühsam rappelte er sich auf und machte sich für den Tag bereit.

Schweigend aßen sie eine Kleinigkeit.

»Ich werde mich in die Bibliothek begeben und dort die verbliebenen Werke durchforsten«, teilte er ihm mit, bevor er aufstand und nach oben verschwand.

Jonaels Finger verkrampften sich so sehr, als er sie zur Faust ballte, dass sie schneeweiß hervortraten. Es schmerzte. Jonael begrüßte diese Pein, zeigte sie ihm doch, dass er noch etwas fühlen konnte.

Wie durch eine fremde Macht ferngesteuert, lief er zu den Gewölben, in denen er die letzten Tage verbracht hatte, um dort weiter nach Antworten zu suchen.

So ungern er es auch zugab, die Hoffnung darauf, fündig zu werden, löste sich immer mehr auf. Die Realität war zu grausam, um sich etwas vorzumachen.

Seine Mutter war schon da, als er eintraf. Jonael war froh, dass sie ihn in Ruhe ließ, da er nicht in Tränen ausbrechen wollte, was geschähe, wenn sie ihn fragen würde, wie es ihm ginge oder ihn gar in den Arm nahm. War der Damm erst einmal gebrochen, da war er sich sicher, dann würden die Tränen fließen und er wäre nicht mehr in der Lage, sie zurückzudrängen.

Nach endlosen Stunden schlug er frustriert das Buch vor ihm zu, sprang auf und rannte hinaus.

Frustriert schrie er auf, ließ seine Flügel erscheinen und hob ab.

Immer weiter entfernte er sich von der Stadt, konnte die Fröhlichkeit und all die Liebe, die er dort wahrnahm, nicht einen Augenblick länger ertragen.

Auf einer Grasebene landete er schließlich, stampfte mit den Füßen auf, schlug um sich, brüllte seine Verzweiflung in die Welt hinaus, musste die Anspannung loswerden, die ihn innerlich zu zerreißen drohte. Erschöpft sank er bald zu Boden, wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen.

The Tyrasar Chronicles II - HerzensruneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt