Kapitel 3

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Vor gut einer Woche bekam Raven die Erlaubnis der Heiler, herumzulaufen, sich sein neues Zuhause anzusehen, ohne dabei in einem dieser Stühle zu sitzen und von Jonael herumgeschoben zu werden. Natürlich musste er noch auf sich achten und sich schonen. Jonael sorgte dafür, dass er es nicht übertrieb und so die erzielten Erfolge zunichte machte.

Zusammen mit Jonael, der seit seiner Ankunft in dieser Stadt kaum von seiner Seite zu weichen schien, befand sich Raven in einer der vielen Bibliotheken.

Unzählige Regalreihen erstreckten sich vor ihm. Ehrfürchtig hob er die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die Buchrücken.

In seiner alten Heimat gab es zwar auch einige Orte, an denen Schriften aufbewahrt wurden, jedoch waren diese den oberen Dämonen vorbehalten. Die einfachen Dämonen und die, die man, wie ihn, nicht für würdig hielt, erhielten nur so viel Bildung, um ihre Arbeit zufriedenstellend zu erledigen.

Samael setzte sich darüber hinweg, brachte ihm oft heimlich Bücher mit, wenn er ihn in Ravens Räumen aufsuchte.

»Und hier kann ich mir wirklich ohne weiteres ein Buch leihen?«, fragte er Jonael zum wiederholten Mal. Dieser lächelte wieder auf diese Weise, die ihm ganz weiche Knie verursachte.

»Natürlich. So viele, wie du möchtest. Solange du sie pfleglich behandelst und zurückbringst, steht dem nichts im Wege. Das Wissen hier ist für alle Engel.« Jonael deutete auf eine dunkle Holztüre, vor der ein einzelner Engelskrieger stand und diese bewachte. »Dies ist der einzige Bereich, der für die meisten verboten ist. Dort befinden sich Bücher und Schriften, die sich im Besitz meiner Mutter befinden. In ihnen steht viel, was sie persönlich betrifft. Diese Dinge möchte sie nicht mit allen teilen, was ich sehr gut nachvollziehen kann.«

Raven nickte zustimmend. Geheimnisse zu haben, war normal und auch wichtig. Wenn man zu viel über sich preisgab, machte man sich angreifbar oder sogar verletzlich.

»Das leuchtet mir ein. Ich bin schon dankbar, dass ich mir hier all das anlesen kann, was ich schon immer wissen wollte.« Etwas nervös fuhr er sich durch sein langes Haar, denn er spürte Jonaels Blick auf sich. Raven konnte sich nicht erklären, wieso, aber er fühlte, wenn er den anderen Engel ansah, etwas ganz tief in sich, das er sonst bei keinem wahrnahm. Ihn danach zu fragen traute er sich jedoch nicht, wollte sich vor ihm nicht als unwissend bloßstellen, wenn es etwas war, das für alle, die in Malaikat lebten, ganz normal war.

Seit er hierhergekommen war, lernte er schon viel, befasste sich intensiv mit den Gepflogenheiten und Traditionen, denn er wollte so schnell wie möglich zu einem von ihnen werden, nicht mehr der Außenseiter sein. Leider konnte er seine Herkunft nicht verbergen, seine dämonische Seite war für jeden spürbar. So mancher wich schon fast ängstlich vor ihm zurück, als würde er sie auf der Stelle anfallen und umbringen.

Raven war dankbar, dass es andere gab, Engel wie Alexian, Arias, Jonael und all die, die halfen, ihn zu retten. Sie brachten ihm ehrliche Zuneigung entgegen, wollten mit ihm befreundet sein. Nach den vielen Jahren, in denen er alles, was nur im Entferntesten an Gefühle erinnerte, verbergen musste, tat er sich schwer, nun dieses Übermaß, das ihm begegnete, zu bewältigen.

Wieder huschte sein Blick zu Jonael. Er war der Grund dafür, dass er in diesem Gefühlssturm nicht verloren ging. Wenn er bei ihm war, wurde alles leichter, die Ängste, die immer noch oft aufkamen, waren besser zu ertragen.

Allein Jonaels Berührung vertrieb die dunklen Wolken in seinem Verstand. Ob das nur daran lag, dass er ein Liebesengel war? Oder war da mehr?

Vielleicht sollte er einmal in Ruhe mit Samael sprechen. Sicher konnte ihm sein Bruder einen Rat geben.

»Ist alles in Ordnung, Raven? Möchtest du dich ausruhen?«, fragte Jonael. Seine Stimme klang wie immer sanft und Raven meinte, seine Besorgnis spüren zu können.

The Tyrasar Chronicles II - HerzensruneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt