Kapitel 23

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Konzentriert las Raven Kapitel für Kapitel einer Sammlung alter Sagen. Mit ihm befanden sich neben Arias auch Cebrail, Alexian und Samael im Raum, die ebenso wie er in ihre Lektüre vertieft waren.

Immer wieder wanderten Ravens Gedanken zu Shekinah, die zusammen mit Jonael nach der Prophezeiung suchte.

Wären sie, wenn sie sie fanden, wirklich in der Lage, ihm zu helfen? Bekäme er dann all seine Gefühle zurück oder würde er für den Rest seines Lebens mit diesem kümmerlichen Rest leben müssen, der ihm noch geblieben war?

Leise seufzend fuhr er sich mit der flachen Hand übers Gesicht. Es brachte nichts, sich verrückt zu machen, denn egal wie es ausgehen würde, er konnte daran nichts verändern, nur auf das Beste hoffen, das hatten ihm die letzten Tage deutlich vor Augen geführt.

»Wie fühlst du dich?«, fragte ihn Samael, der plötzlich neben ihm auftauchte und sich zu ihm setzte.

»Es geht so. Im Augenblick bin ich dankbar, dass ich überhaupt etwas fühlen kann, auch wenn mich all die Sorgen irgendwann sicher in den Wahnsinn treiben werden«, gab er offen zu. Vor seinem Bruder konnte er sowieso nichts verbergen, dafür kannte ihn dieser viel zu gut.

»Das ist gut. Mir bist du nämlich mit Gefühlen deutlich lieber. Ich kenne dich mein ganzes Leben lang und immer warst du derjenige von uns, der einen ungehinderten Zugang zu seinen Gefühlen hatte, denn du nie verloren hast. Dich nun so anders zu erleben, macht mir ehrlich gesagt Angst. Unser Leben hier ist so schön, ich möchte nicht, dass sich etwas für dich ändert.«

Er legte Raven leicht den Arm um die Schulter.

Ihr Verhältnis hatte sich verändert, war inniger geworden, seit Samael und er sich in Malaikat befanden. Auch Samael setzte es zu, dass er ihm, seinem kleinen Bruder, nicht helfen konnte, dass er machtlos war. Seine Angst konnte er wahrnehmen. Für jemanden wie Samael, einen Krieger, für den Emotionen vor nicht allzu langer Zeit noch etwas waren, das er nicht haben sollte, war es ein großer Schritt, seine Gefühle so deutlich zu zeigen. Das hatte er vor allem Alexian zu verdanken. Bei ihm schien Samael nichts zurückhalten zu können und es auch nicht zu wollen, in ihrer Beziehung gehört es dazu.

Wenn es für Raven nicht gut ausging, er alles verlor, was ihn bis dahin ausmachte, dann würde sein Cousin für Samael da sein, ihn auffangen und nicht zulassen, dass er daran kaputt ging. Und gemeinsam mit Arias würden sie Jonael beistehen, ihm Halt geben, wenn Raven selbst nicht mehr in der Lage dazu war.

»Samael, versprichst du mir etwas?«

»Natürlich, worum geht es?«, erwiderte Samael, hielt Ravens Blick stand.

»Wenn ich mich von Jonael abwenden werde, denn nichts anderes ist es für mich, wenn ich ihn nicht mehr lieben kann, würdest du ihm beistehen, auf ihn achten, damit er nicht vollkommen in seiner Trauer versinkt, sich aufgibt?«, fragte er leise.

»Ja, das werde ich, das schwöre ich dir bei meinem Leben. Jonael wird nicht alleine sein, Alexian, Arias und ich werden ebenso für ihn da sein wie Shekinah und Cebrail. Wir sind doch eine Familie und die lässt niemanden im Stich.«

»Ich danke dir, von ganzem Herzen. Wenn ich sehe, wie sehr es ihm schon jetzt zusetzt, möchte ich mir gar nicht vorstellen, wie es für ihn erst sein muss, wenn ich ihm vollständig entglitten bin.« Raven legte Samael eine Hand auf die seine. »Und du, wirst du damit umgehen können?«

Traurigkeit spiegelte sich in Samaels Gesicht wider.

»Ich denke, mir geht es wie Jonael und den anderen. Es macht mich wahnsinnig, dass ich nichts weiter tun kann, als Bücher und andere Schriften durchzugehen. Normalerweise würde ich mir mein Schwert schnappen und denjenigen töten, der dich bedroht, doch dieses Mal gibt es niemanden, gegen den ich in die Schlacht ziehen kann.« Kurz berührte Samael Ravens Wange, bevor er die Hand wieder sinken ließ. »Du bist mein kleiner Bruder, ich will dich glücklich sehen. Mit Jonael warst du es und nun droht all das zu zerbrechen. Ich will laut schreien, um mich schlagen und die Welt verfluchen, was aber zu keinem Ergebnis führen wird. Ich liebe dich, mein Bruder, das wird sich nicht ändern, ganz gleich was noch geschehen wird.«

The Tyrasar Chronicles II - HerzensruneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt