Kapitel 10

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»Was hast du gespürt, Mutter?« Fragend blickte er sie an. In sich nahm er ganz deutlich wahr, wie diese Situation Raven verunsicherte und Jonael wollte nicht, dass er wieder in eine Spirale aus Angst abglitt.

Wie als habe diese Frage sie aus einer Art Trance gerissen, sah sie ihn einen Moment verwirrt an.

»Etwas Ungewöhnliches...etwas, das ich niemals erwartet hätte.«

Kryptische Antworten gab Shekinah gern, aber nicht bei ihm. Wieso hielt sie ihn hin? War es etwas Schlimmes? Obwohl er es nicht wollte, war nun er derjenige, der ängstlich wurde. Krampfhaft versuchte er, diese Emotionen von Raven fernzuhalten.

»Um was handelt es sich?«, fragte jetzt Raven, seine Stimme war nicht mehr wie ein Flüstern und sie bebte. Seine Hand, die Jonaels hielt, klammerte sich an ihm fast schmerzhaft fest.

»Es ist so, dass ich alle meine Kinder, meine Engel, kenne, dass ich sie spüre und weiß, wie sich ihre Energien, ihre Seelen anfühlen. In dir spüre ich das Erbe des Mannes, der dich zeugte und das deiner Mutter. Und ihre Essenz, die sie teilweise an dich weitergab, ist mir wohlbekannt. Sie gehört zu den Ältesten.« Seine Mutter suchte Jonaels Blick. Der Ausdruck in ihren Augen ließ einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen. Sofort als sie die Worte aussprach, wusste er, über wen sie sprach. Es gab nur einen weiblichen Engel aus den Reihen der Erzengel, die ungefähr zu der Zeit verschwand, die Ravens Geburt vorausging.

»Bist du dir sicher?« Obwohl er wusste, dass sie sich nicht irrte, versuchte er sich an den letzten Funken Hoffnung zu klammern. Doch ihr bestätigendes Nicken machte ihm klar, dass das vergebens war.

»Raven, deine Mutter hieß Anaelle. Sie gehörte zu meinen Erzengeln, zu den ersten, die ich erschuf und sie war die Zwillingsschwester von Michael. Sie waren das einzige Zwillingspaar unter den Erzengeln, entstanden aus derselben Energieformation und besaßen eine innige Verbindung zueinander.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Raven Jonaels Mutter an.

Minutenlang schwieg er, das Gehörte sickerte wohl nur sehr langsam in seinen Versand.

»Michael...Alexians Vater? Er hasst die Dämonen...er wollte seinen eigenen Sohn dafür töten, dass er einen Dämon als Gefährten anerkannte. Was wird er mir dann erst antun, wenn er erfährt, dass ich Schuld bin am Tod seiner Schwester?«, brachte er seltsam ruhig hervor.

Stoßweise atmete er ein und aus, schien aber nie genug Luft zu bekommen. Sein gesamter Leib zitterte und die Angst, die Raven ausstrahlte, traf Jonael in wiederkehrenden Wellen, was nicht zu der ruhigen Art passte, in der er zuvor sprach.

Jonael zog seinen Liebsten in die Arme, sah zu seiner Mutter, denn er wollte, dass diese ihm versicherte, dass er nicht in Gefahr war. Jonael würde er das, trotz seiner starken Gefühle für ihn, nicht glauben. Shekinah nickte, stand auf und kam zu ihnen. Vor dem Sessel, in dem Raven zusammengesunken saß, ging sie in die Knie.

»Raven, du bist sicher, das versichere ich dir. Du und dein Bruder, ihr steht unter meinem persönlichen Schutz. Nicht einmal die Erzengel würden es wagen, euch zu nahezutreten. Es wird erst einmal ein Schock sein, vor allem für Michael, er liebte seine Schwester sehr, doch er wird sicher verstehen, dass er durch dich etwas von ihr zurückerhält.« Sanft legte sie ihre Hände auf Ravens, der nun langsam den Blick hob. In seinen Augen schimmerten Tränen. Verdammt, Jonael tat alles, damit es ihm besser ging, doch immer wieder tauchte etwas Neues auf, das ihm den Boden unter den Füßen wegriss. »Bis er das begreift, wirst du hier sicher sein. Keiner würde es wagen, gegen einen meiner ausdrücklichen Befehle zu verstoßen. Gib ihm Zeit, dann kommt er sicher zu Besinnung, sowohl was Alexian als auch die Verwandtschaft mit dir angeht. Deine Abstammung würde, zumindest ansatzweise, die spontane Heilung erklären, ebenso der dämonische Schutzschild. Von beiden Seiten bekamst du machtvolle Anlagen vererbt. Aber ich werde weitere Nachforschungen anstellen, um ganz sicher zu sein, denn die Nachkommen der Erzengel haben nie dieselben starken Fähigkeiten wie ihre Väter oder Mütter. Bei den Dämonen ist es ebenso. Aber keine Sorge, ich werde nicht eher ruhen, bis ich eine Erklärung gefunden habe.«

The Tyrasar Chronicles II - HerzensruneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt