Kapitel 5

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Mit einem Buch in der Hand, das er sich am Tag zuvor in der großen Bibliothek ausgeliehen hatte, saß Raven auf dem breiten Fenstersims in seinem Zimmer. Um es bequemer zu haben, nahm er eines der Kissen, die auf dem gemütlichen Sessel, der in der Ecke seines Raums stand, bereitlagen und stopfte es sich zwischen Rücken und die Wand. Hin und wieder sah er auf, blickte hinaus in den fast wolkenlosen Himmel und beobachtete die Engel, die dort flogen. Beim Anblick der schneeweißen Flügel wanderten seine Gedanken sofort zu Jonael, zu ihren Küssen. Es fühlte sich so gut an, diesen Mann zu küssen und zu wissen, dass dieser ihn mochte. Nein, er mochte ihn nicht nur, das war das falsche Wort. Er liebte ihn, war sein Gefährte. Dieses eine Wort bescherte ihm einerseits ein berauschendes Glücksgefühl, auf der anderen Seite jagte es ihm Angst ein. An so etwas zu denken, es sich womöglich sogar zu wünschen, hätte für ihn vor nicht allzu langer Zeit noch den Tod bedeutet.

Hier, in Malaikat, war es natürlich nicht so, Liebe, tiefe Gefühle und Sehnsüchte in all ihren Farben und Formen, waren ganz normal, gehörten zum Alltag der Engel, eines jeden Paares. Das wusste er, sagte es sich immer wieder, fast wie ein inneres Mantra, doch ein einziger Augenblick, in dem die dunklen Erinnerungen sich nach vorne drängten, reichte aus und schon war die Panik zurück.

Ihm war klar, dass er noch lange Zeit unter dem, was ihm widerfuhr, leiden würde, diese Art von Verletzungen heilte nicht von heute auf morgen.

Seufzend legte er ein Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu, bevor er es zur Seite legte.

Immer dann, wenn Jonael nicht bei ihm war, begann sein Verstand, sich nach kurzer Zeit im Kreis zu drehen. Dieselben Probleme und Ängste standen ihm vor Augen und er konnte keine Lösung, keinen Weg hinaus aus dieser endlosen Gedankenspirale finden. Aber er würde nicht zu Jonael rennen, sich schutzsuchend an ihn schmiegen, denn er wollte nicht immerzu derjenige sein, der schwach war und Schutz brauchte. Sein Gefährte...man, es war Wahnsinn, wie gut sich diese Gewissheit anfühlte...würde alles für ihn tun, ihn halten, ihm zeigen, das er ihn aus tiefstem Herzen liebte, obwohl sie einander noch nicht lange kannten, doch er wollte ihm beweisen, das auch in ihm Stärke war, er an dem, was man ihm in all diesen Jahren antat, nicht zugrunde gehen würde.

Ihre Beziehung würde sich langsam entwickeln, sie würden einander Zeit geben, sich aufeinander einzustimmen, vor allem, was den intimen Part betraf, doch unabhängig davon war da die Zuneigung, die man, wie Jonael, Alexian und Samael ihm erklärten, vom ersten Moment an spürte. Sie war rein, speiste sich aus etwas, das kein lebendes Wesen je ergründen konnte. Diese Emotionen waren machtvoll, konnten einem sogar helfen zu heilen, was Jonaels Gabe ihm eindrucksvoll bewies.

Oft, wenn sie zusammen waren, hielt ihn Jonael an der Hand, strich ihm sanft mit dem Daumen über den Handrücken und ließ dabei ganz selbstverständlich, oft ohne es überhaupt zu merken, seine Energie in ihn fließen, erfüllte ihn damit. Seine verwundete Seele gierte danach und saugte sie auf wie ein Schwamm. Dass sie miteinander verbunden waren, verstärkte die Wirkung noch, half effektiver.

Als Arias, der wie Jonael den Heilern mit Verletzten half und seit langer Zeit ein guter Freund von Alexian und Jonael war, ihm anstelle von seinem Gefährten die heilenden Wellen zukommen ließ, spürte er sofort den Unterschied, obwohl auch Arias zu den machtvollsten unter den Liebesengeln gehörte, wie Samael ihm sagte. Doch er war nicht sein Gefährte, sie waren nicht so eng miteinander verbunden.

Lächelnd stand er auf, streckte sich, ehe er nach unten in die Küche ging, denn er war durstig.

Gerade als er die oberste Stufe der Treppe mit dem Fuß berührte, durchzuckte ihn ein Gefühl, das so unangenehm war, dass er sich zusammenkrümmte. Es war, als würde es immer intensiver, bis es sich schließlich zu einer Schmerzwelle entwickelte, die seinen ganzen Leib erfüllte, da er sich mit all der Kraft, die er hatte, dagegen wehrte.

The Tyrasar Chronicles II - HerzensruneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt