Kapitel 6

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Die Tage vergingen und meine Aufregung wuchs Tag für Tag. Jetzt in dem Café zu sitzen und auf meine alte Lehrerin zu warten, fühlte sich wie die schwerste Prüfung meines Lebens an. Ich neigte dazu zu dramatisieren, das hatte mir auch Annika mehrfach gesagt, aber mir schlug das Herz bis zum Hals, meine Hände waren klamm und mein Bein wippte nervös auf und ab. Ich war zu früh, viel zu früh, aber wie ein Nervenbündel in der Wohnung herumzuwandern, war mir nicht viel besser vorgekommen. Vor allem war mein Freund bereits nach wenigen Minuten mit mir wahnsinnig geworden - er wollte mit seinen Kumpels zocken und ich hatte ihn anscheinend dabei gestört.

Im Café herrschte bereits ein stetiges Treiben, Kellner*innen wuselten durch die schmalen Gänge, servierten Muffins, Kuchen, Tee und Kaffee, während Leute das überfüllte Café betraten und direkt wieder umdrehten, als sie die vollen Tische sahen. Zum Glück hatte ich einen Tisch reserviert; es war mein Lieblingscafé und an einem Wochenende hatte man keine Chance auf einen Tisch, wenn nicht vorab reserviert wurde. Nervös drehte ich meinen Ring am Finger und beobachtete die junge, rothaarige Kellnerin dabei, wie sie das Kakao-Malheur eines kleinen Jungen aufwischte, der in seinem Wutanfall die Tasse zu Boden gerissen hatte. Ich sehnte mich nach einer ruhigeren Umgebung, aber vielleicht war es gerade gut, nicht zu abgeschieden zu sein. Die Anwesenheit vieler Gäste im Café bedeutete, dass keine besondere Intimität mit Frau Sander entstehen würde – eine, die ich mir vermutlich eh nur einbildete. In der Vergangenheit waren Momente, in denen wir allein waren, immer meine Auslöser gewesen, aber nach all den Jahren sollte das doch kein Problem mehr sein, oder etwa doch? Ich pustete gestresst die Luft aus den Wangen und blickte erneut zur Uhr in der Ecke, noch fünf Minuten, dann würde ich wieder auf sie treffen. Falls sie pünktlich war. Ich hatte es mir bereits jeden Tag ausgemalt: unser Aufeinandertreffen. Fernab von den Rheinbeats, den Menschenmassen und dem fehlenden Überraschungseffekt. Vielleicht, ja vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden. Ich war vorbereitet, sowohl emotional als auch gedanklich. Dieses Mal konnte mich die Situation gar nicht so aus der Bahn werfen wie auf der Veranstaltung. Ich redete mir selbst gut zu und überflog die letzte Nachricht von Phillip, der mir viel Spaß wünschte. Wie von Annika geraten, hatte ich vor einigen Tagen das Gespräch mit meinem Freund gesucht und ihm erklärt, wie sehr es mich verletzte, wenn er so über meine Vergangenheit sprach. Er sah es ein, entschuldigte sich und ging ab diesem Moment behutsamer mit dem Thema um. Obwohl ich jetzt das Gefühl nicht loswurde, dass er nun doch ein wenig eifersüchtig war. Schätzungsweise hatte er vorher nicht realisiert, wie schlimm und intensiv die Zeit auf der Schule wirklich für mich gewesen war. Er hatte es unterschätzt und nun fragte er mich zum wiederholten Male, warum sie sich wohl mit mir treffen wollte. Ich konnte es ihm nicht beantworten, schickte ihm eine beruhigende Nachricht und steckte mein Handy zurück in die Tasche.

Gerade als ich nach der Speisekarte griff, trat Frau Sander durch die Eingangstür. Mit verwehtem Haar, einem Lächeln auf dem Gesicht und suchendem Blick. Nichts hatte mich auf ihren Anblick vorbereitet, der mich wieder wie mit 18 Jahren fühlen ließ. Es machte mich genauso nervös wie vor über zehn Jahren, ich war wieder einmal von ihrer Schönheit eingenommen und verzaubert. Wie konnte diese Frau selbst jetzt noch so gut aussehen und diese Wirkung auf mich haben? Ich presste die Lippen zusammen, winkte ihr zu und erstarrte, als sie mich mit einem umwerfenden Lächeln belohnte. Eiligen Schrittes kam sie auf mich zu, legte ihre Tasche und Jacke ab und blieb dann unschlüssig vor mir stehen. Wir starrten uns für eine gefühlte Ewigkeit an, dann brachte ich endlich eine Begrüßung hervor, wagte es aber nicht, den ersten Schritt zu machen. Sollte man sich umarmen, die Hand geben? Auch Frau Sander schien unsicher, begnügte sich genau wie ich mit einer Begrüßung ohne Körperkontakt und ließ sich auf den orangenen Sessel fallen. „Es ist schön dich zu sehen, Lea", sagte sie und schenkte mir wieder ein sanftes Lächeln. „Gleichfalls", erwiderte ich, weil es die Wahrheit war. Es war schön sie zu sehen, auch wenn es mich komplett verwirrte. „Hast du schon etwas bestellt?", fragte sie mich neugierig und vergrub kurz darauf ihr Gesicht hinter der Karte. „Nein, ich habe auf Sie gewartet", nun nahm ich ebenfalls die Karte zur Hand, obwohl ich bereits wusste, was ich bestellen wollte. Frau Sanders Augenbrauen huschten nach oben, dann grinste sie verlegen: „Nenn mich doch bitte Michelle, wir sind schon lange nicht mehr Lehrerin und Schülerin." Ich brachte nicht mehr als ein Nicken zustande, was Frau Sander mit einem Zwinkern quittierte: „Kannst du etwas empfehlen? Es klang in deiner Nachricht so, als wärst du hier schon öfters gewesen." „Der Karottenkuchen ist besonders lecker, wenn es lieber etwas Schokoladiges sein soll, dann kann ich den Etna-Muffin empfehlen", ich nutzte die Zeit, um sie genauer zu betrachten und verlor mich darin. Ihre braunen Haare waren tatsächlich länger und welliger als damals, sie umspielten sanft ihr kantiges Gesicht. Sie nahmen ihr dadurch etwas von der Härte und Schärfe im Gesicht, die ich damals als so anziehend empfunden hatte. Ihre grünen Augen wirkten noch genauso hypnotisierend wie damals, das Grün stach durch ihre sonnenbraune Haut besonders hervor und lud zum darin Verlieren ein. Sommersprossen verteilten sich zahlreich über Nase, Wangen und Stirn, also hatte mich der Eindruck auf Rheinbeats nicht getäuscht. Es waren mehr als früher, doch nur zu gerne hätte ich jede einzelne gezählt. Kopfschüttelnd riss ich mich von ihrem Anblick los, rügte mich selbst für diese Gedanken und sah gerade noch, wie Michelle Sander schmunzelte. „Okay, das klingt beides sehr gut. Was nimmst du?", hakte sie nach und fuhr sich durch ihr Haar. Die Ader an ihrem Hals stach dabei hervor und erinnerte mich an den Sportunterricht bei ihr, bei dem ich jeder ihrer Bewegungen und Anstrengungen gefolgt war, um eben diese Spektakel zu beobachten.
„Lea?", riss mich meine alte Lehrerin aus den Gedanken, „Alles okay?" Wieder legte sich ein wissendes Schmunzeln auf ihre Lippen und ich verfluchte wie leicht ich zu durchschauen war. „Ja, natürlich. Ich nehme den Karottenkuchen", beschwichtigte ich sie und legte die Karte zurück auf den Tisch, „und dazu einen Latte Macchiato."

Das Echo der Erinnerung (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt