Kapitel 19

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Die Macht der Zeit, die Unvergänglichkeit von Gefühlen und die Hoffnung, die ich all die Zeit in mir getragen hatte, zeigten mir ganz genau, wie besonders unser Aufeinandertreffen nach so vielen Jahren gewesen war. Jeder gefangen in seinem eigenen Zeitstrang, neuen Erinnerungen, Freunden und Partnern. Und doch fanden wir zueinander, nach all den Jahren und trotz unserer schwierigen Vergangenheit. Trotzen allen Widrigkeiten, Vorurteilen und Meinungen – denn die Leute hatten viel zu unserer Beziehung zu sagen. Angefangen vom Altersunterschied, unserer Vergangenheit Lehrerin und Schülerin gewesen zu sein, bis hin zu dem Fakt, dass wir zwei Frauen waren. Doch es war mir egal, denn diese Frau machte mich so unendlich glücklich, wie keine Person zuvor. Ich war an meinen Erinnerungen gewachsen. Sie hatten ihre Fußspuren hinterlassen und hallten wie ein Echo in jedem Moment unseres Daseins wider und hatten uns zu dem gemacht, was wir jetzt waren.

Ich küsste Michelles Hand und zog sie lachend um die nächste Ecke: „Hier sind wir! Die Ausstellung, die du unbedingt noch sehen wolltest." Wir waren mitten in London, unser erster gemeinsamer Urlaub, den wir mit den schönsten Erinnerungen und Ausflügen schmückten. Jeder Moment war kostbar und das Leuchten in ihren Augen, als sie endlich einen Blick auf das Gemälde erhaschen konnte, war all den Aufwand Wert gewesen. Dieser ganze Trip war eine Überraschung gewesen, mit der Hilfe von Anni und Yvi, hatte ich innerhalb von zwei Monaten alles auf die Beine gestellt. Ich war so voller Dankbarkeit, so tolle Freunde zu haben, es war nicht selbstverständlich. „Es ist der Wahnsinn", Michelle legte ihren Kopf in den Nacken und scannte jeden Millimeter des Gemäldes, „Noch viel beeindruckender, als ich es mir vorgestellt habe." Ich schmiegte mich von hinten an sie und legte meine Arme um ihre Taille, gemeinsam studierten wir das kunstvolle Werk und verloren uns im Hier und Jetzt.

„Hast du sowas schon mal gesehen?", fragte mich Frau Sander, die mittlerweile zum dritten Mal unsere Vertretungslehrerin in Biologie war. Wieder half ich ihr beim Aufräumen, doch jetzt zeigte sie mir etwas unter dem Mikroskop. „Schau dir das mal an, das ist beeindruckend", sie legte ihre Hand an meine Schulter, um mich zum Mikroskop zu dirigieren. Ihre Hand brannte wie Feuer und mit jedem Tag, den ich sie zu sehen bekam, wurde mir klarer, was hier vor sich ging. Doch es zu verstehen, es zu akzeptieren, verlangte mir viel ab. Der Gedanke daran, sich in eine Frau verliebt zu haben, lag schwer auf meinen Schultern, zog mich einem Abgrund entgegen, den ich vorher nicht gekannt hatte. Allerdings behielt ich das für mich, niemals würde ich Frau Sander davon erzählen, ich wollte nicht, dass sie mich mit anderen Augen sah. Mich auf Abstand hielt. „Okay, okay, ich schaue ja schon", sagte ich und genoss die Berührung ihrer Hand, die noch immer auf meiner Schulter lag, „Und was genau bekomme ich da jetzt zu sehen?" Frau Sander beugte sich über meine Schulter hinweg und ihre Haare kitzelten meinen Hals. Mein Körper erstarrte, aber mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Soll ich es dir etwa noch mal ganz genau erklären?", hakte sie nach und wieder wanderte eine Braue in die Höhe, „Hast du eben etwa nicht zugehört." „Pfff, natürlich habe ich Ihnen zugehört", erwiderte ich pikiert, „Aber ich möchte die Details wissen – nicht die abgespeckte Variante, mit der sich meine Mitschüler*innen zufriedengeben. Geben Sie mir mehr!" Ich glaubte Frau Sander kurz schwer schlucken zu sehen, dann räusperte sie sich und erklärte mir, welchen Prozess ich dort unter dem Mikroskop sah.

Jede Minute, die ich mit Michelle verbrachte, erfüllte mich mit einer Freude, die ich nicht in Worte fassen konnte. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass mich ein Mensch so glücklich machen könnte. Es war anders als mit jeder anderen Person zuvor, als wäre mein fehlendes Puzzleteil endlich an die richtige Position gerückt. Hätte mich jemand vor zwölf Jahren gefragt, ob ich mit 28 Jahren, die richtige Person an meiner Seite haben würde, hätte ich vermutlich mit Nein geantwortet. Denn zu diesem Zeitpunkt träumte ich noch von meiner unerreichbaren Lehrerin und einer Zukunft, die undenkbar gewesen war. Eine Beziehung wäre verboten gewesen, zurecht. Allerdings jetzt hier zu stehen, in London, neben meiner Freundin, die meine ehemalige Lehrerin war, fühlte sich verrückt an. Und auch ein wenig verboten. „Worüber denkst du nach?", holte mich Michelle aus meinen Gedanken und hauchte einen Kuss auf meine Wange, „Du grinst die ganze Zeit." Ertappt fuhr ich mir durchs Haar, überspielte meine Verlegenheit und erwiderte: „Über dich. Über unsere Vergangenheit. Wie sich alles entwickelt hat." „Mein Gott, das ist aber ganz schön viel", dieses verdammt verführerische Lächeln lag auf ihren Lippen, das mich nach vorne schnellen ließ, um ihre Lippen auf meinen zu spüren, „Und womit habe ich das verdient?" „Weil ich dankbar bin, dass du mir diesen Zettel in meine Handtasche gesteckt hast." Ihre Augen leuchteten bei meinen Worten, was mich innerlich dahinschmelzen ließ. „Ich war so aufgeregt und unsicher, ob ich es machen sollte", gab Michelle zu, „Elisa hat mich regelrecht dazu drängen müssen. Jetzt bin ich sehr froh darüber, dass sie mich getriezt hat." Gespannt hörte ich ihr zu, da sie mir noch nie davon erzählt hatte, wie es für sie gewesen war, als sie mich auf Rheinbeats gesehen hat. „Hast du mich sofort erkannt?", hakte ich nach und legte meinen Kopf leicht schief. „Ja, wie könnte ich nicht", sie schob eine Haarsträhne hinter mein Ohr und blickte mich verliebt an, „Du hast dich verändert, natürlich. Wer sieht schon genauso aus, wie vor zehn Jahren? Aber ich würde dich wohl immer wiedererkennen." Ich spürte die Hitze in meine Wangen schießen und nestelte verlegen an meiner Handtasche herum: „Du hast dich kaum verändert, du siehst immer noch genauso aus wie damals. Genauso unwiderstehlich, heiß, wunderschön..." „Okay, okay, genug", Michelle lachte kehlig und hielt mir den Mund zu, „Wir müssen ja nicht so dick auftragen, hm?"

Das Echo der Erinnerung (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt