Kapitel 5

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Michelle Sander, 22:22 Uhr
Hallo Lea, danke für deine Nachricht, ich habe schon gedacht, du hast den Zettel vielleicht verloren. Wie sieht es bei dir übernächstes Wochenende aus? Hast du an dem Samstag Zeit? Ich würde mich freuen.

Ich las die Nachricht bereits zum hundertsten Mal, die so schnell nach meiner ersten Nachricht gekommen war, dass ich mich bereits schlecht fühlte, ihr nicht innerhalb von 24 Stunden geantwortet zu haben. „Jetzt antworte ihr schon", munterte mich Annika auf, die neben mir saß und an ihrem Tee nippte, „Du starrst seit Ewigkeiten auf dein Handy, sie wird dir nicht den Kopf abreißen." „Ich weiß nicht...", erwiderte ich gedehnt und legte das Handy wieder zur Seite, „Vielleicht war es ein Fehler ihr zu schreiben." Annika endlich eingeweiht zu haben, hatte sich wie ein Befreiungsschlag angefühlt, jetzt musste ich ihr nur noch von meinem Gespräch mit Phillip erzählen, was mir deutlich schwerer fiel. „Sie wollte das Gespräch und sie hat dir ihre Nummer gegeben, was soll schon dran sein?", fragte sie mich vorsichtig und schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln, „Na los." „Ich habe Phillip von unserem Aufeinandertreffen erzählt", platzte es dann endlich aus mir heraus und Falten bildeten sich auf Annikas Stirn, „Und seine Reaktion war... gleichgültig... und ein wenig verletzend." „Warum das?", nun trank ich etwas von meinem Getränk und ließ unseren gestrigen Tag Revue passieren. „Er hat gesagt, er würde sich nicht sorgen, wenn wir uns Treffen wollen, weil das damals ja nur eine dumme Schwärmerei war...", erzählte ich und wieder fühlte es sich an, als würde ich mit eiskaltem Wasser übergossen werden. Seine Worte hatten mich mehr verletzt als ich zugeben wollte, auch wenn ich noch versucht hatte, seinen Worten einen Sinn zu geben, sie zu verstehen. „Das hat er gesagt? Sorry, dass ich das jetzt so sage, aber was ein Arschloch", presste meine beste Freundin hervor und drückte aufmunternd meine Hand, „Die Zeit war belastend und hat dich maßgeblich geprägt, es war alles, aber nicht dumm. Wir können nichts dafür, in wen wir uns verlieben. War es aussichtslos? Ja. War es gut, über deine Gefühle zu reden? Ja... Ich weiß du bereust es bis heute, dich ihr anvertraut zu haben, dennoch denke ich, es war eine deiner mutigsten Aktionen. Lass dich nicht unterkriegen, weder von ihr noch von Phillip. Er kann das vielleicht nicht ganz nachvollziehen, oder es ist seine Art damit umzugehen. Sein Schutzmechanismus. Sag ihm, dass es dich verletzt hat und nun antworte endlich Frau Sander." Ihr Finger fuhr beruhigend Kreise über meine Handoberfläche, was mich dankbar lächeln ließ. Meine beste Freundin hatte alles hautnah mitbekommen, weshalb sie die einzige Person war, die halbwegs nachvollziehen konnte, was ich damals durchgemacht habe. „Danke, Anni", ich riss sie in eine Umarmung, atmete ihren Duft nach Lavendel ein und drückte ihr einen Schmatzer auf die Wange, „Danke für alles."

„Tut mir leid, Lea. Du musst dich da in etwas verrannt haben", sagte Frau Sander zu mir, als ich mein Anliegen endlich über die Lippen gebracht hatte, „Ich habe nichts davon bemerkt, gar nichts." Ungläubig sah ich sie an, ließ all die Momente Revue passieren und zweifelte bereits an mir selbst, doch ihr Blick huschte über meine Hände, zu meinem Gesicht und blieb einen Moment zu lang an meinen Lippen hängen. „Ich wollte dir niemals falsche Hoffnungen machen, oder dir überhaupt das Gefühl geben, da könnte etwas meinerseits sein. Ich bin immer für dich da, versteh mich nicht falsch... ich war es und würde es immer sein, wenn du das willst... Aber Gefühle waren da meinerseits nicht im Spiel", erklärte sie sich weiter und versetzte mir mit jedem Wort einen weiteren Stich in mein Herz. „Sie haben wirklich gar nichts gemerkt?", fragte ich erneut etwas ungläubig nach, da ich zumindest der Auffassung gewesen war, sie hätte meine auffällige Art bemerkt. „Nein, tut mir leid", erwiderte sie fast etwas zu schnell und nun wanderten ihre Augen zu meinem Unterarm, „Warum hast du dich mir nicht schon früher anvertraut?" Ihre Hand umfasste vorsichtig mein Handgelenk und ich schüttelte resigniert den Kopf: „Was hätte es mir gebracht? Niemals hätte ich ihnen während meiner Schulzeit davon erzählt. Jeder Tag wäre die Hölle gewesen. Die Scham hätte mich zerfressen." Sorgenfalten gruben sich in ihre Stirn und als ich bemerkte, wie sie noch immer meine Hand hielt, befreite ich mich sanft aus ihrem Griff. „Für nichts davon muss man sich schämen", erwiderte sie und spielte nun mit dem Verschluss ihrer Strickjacke herum, „Wir Lehrer sind für euch da, ihr könnt immer zu uns kommen, wenn euch etwas bedrückt." Nun lachte ich hämisch: „Bedrückt? Das hier ist etwas völlig anderes, es hat mich nicht bedrückt, es hat mich..." Ich hielt inne, um nicht zu viel zu verraten und fuhr etwas beruhigter fort: „Das hätte ich niemals über meine Lippen gebracht, ich habe mich schon allein dafür geschämt, mich überhaupt in eine Frau verliebt zu haben... dass es ausgerechnet auch noch sie sind, war nur die Spitze des Eisbergs." „Lea, ich...", setzte sie an und rückte unbewusst ein Stück näher, „Hätte ich es geahnt, dann..." „Dann?", herausfordernd sah ich sie an, wollte hören, was sie alles nicht gemacht hätte. Würde sie damit zugeben, dass an ihrem Verhalten nicht alles korrekt gewesen war? „Es tut mir leid", war alles, was sie sagte und ihr Blick glitt durch mich hindurch, „Ich wollte dir niemals schaden, dich schlecht fühlen lassen. Geht es dir denn mittlerweile besser?" Ich sah, wie sie meinen Körper beäugte, abschätzte, ob ich noch immer an meinen alten Mustern festhing, aber die Chance gab ich ihr nicht. „Das war ein Fehler", murmelte ich und wollte aufstehen, „Ich hätte nicht herkommen sollen, um sie mit meinen Problemen zu belasten. Wahrscheinlich haben Sie Recht und ich habe zu viel in alles hineininterpretiert, sie jetzt auch noch damit zu konfrontieren... Es war falsch. Mir tut es leid." Ich stand schon fast, da hielt sie mich davon ab, einfach so zu gehen: „Nein, Lea. Es war richtig mit mir zu sprechen und wenn du in Zukunft Hilfe brauchst... Ich bin da."

„Wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken, hm?", riss mich Anni aus meinen Gedanken und ich lächelte ihr entschuldigend zu. „Tut mir leid, aber diese ganze Geschichte versetzt mich ständig zurück in die Vergangenheit", gab ich zu und seufzte, „Weshalb ich ihr vermutlich auch noch nicht geantwortet habe. Ich habe Angst, Angst davor, was es mit mir macht. Diese Frau hat noch immer eine Macht über mich, die mich erschreckt." „Aber du hast jetzt einen Freund an deiner Seite, jemanden, der deine Gefühle erwidert. Du bist stark, Lea. Mach dich nicht immer selbst so runter. Ich will gar nicht abstreiten, dass es dich mitnehmen wird, ach es wird dich auch tagelang beschäftigen. Aber vielleicht ist das hier mal dein richtiger Abschluss! Ein Abschluss, der seinem Namen aller Ehre macht", ermunterte sie mich und ich wollte, dass sie Recht behielt. „Meinst du?", fragte ich etwas benommen und lehnte mich an die Stuhllehne hinter mir, „Du glaubst, ich kann danach einen endgültigen Schlussstrich ziehen." „Davon bin ich überzeugt. Es ist doch schon jetzt nicht mehr wie damals, auch wenn sie noch eine gewisse Art von Anziehung und auch Macht über dich hat, bist du nicht mehr so alt wie damals. Du bist Erwachsen, kannst für dich einstehen. Du stehst hinter dir und deiner Sexualität, bist nicht mehr so... Wie nenne ich es jetzt... überfordert mit der Situation dich selbst zu finden", ihr Daumen kreiste kurz über meinen Oberarm, dann umfasst sie wieder die wärmende Teetasse, „Du schaffst das, Lea. Und wenn du zu sehr daran zweifelst, dann lass es." Ich ließ mir ihre Worte durch den Kopf gehen und musste ihr in vielen Punkten zustimmen, doch was meine Sexualität betraf, war ich mir bis heute unsicher. Außer Frau Sander, gab es nie wieder eine Frau, die ich interessant genug gefunden hätte, um sie näher kennenlernen zu wollen. „Dann sollte ich ihr mal antworten, hm?", antwortete ich ausweichend, um nicht noch mehr von meinen Selbstzweifeln preiszugeben, „Schlimmer kann es nicht werden, oder?"

Das Echo der Erinnerung (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt