„Euer Lehrer ist leider krank geworden", erklärte Frau Sander, die ich bereits des Öfteren auf den Fluren der Schule getroffen hatte. Sie verwirrte mich bereits seit Wochen, auch wenn ich nicht einordnen konnte, aus welchem Grund. Ich studierte ihr Aussehen, träumte jede Nacht von ihr und sehnte mich nach ihrer Nähe. Ich fürchtete mich vor dem Gefühl in mir, war es mir doch so fremd, konnte es aber auch nicht in Worte fassen. „Herr Meier hat mir gesagt, was ihr letzte Stunde gemacht habt. Wir machen genau dort weiter", sie tippte auf das Buch vor sich, „Schlagt schon mal eure Bücher auf Seite 43 auf, dann holen wir die Materialien aus dem Raum nebenan." Bücher raschelten, Stühle scharrten und wir erhoben uns, um ihr in den Nebenraum zu folgen. Meine weichen Beine trugen mich mehr schlecht als Recht in ihre Richtung und als ich an ihr vorbei ging, kribbelte mein ganzer Körper. Seit neustem reagiert ich jedes Mal so auf sie, wenn ich in ihrer Nähe war. Ich konnte von Glück reden, sie nicht als Lehrerin im Unterricht zu haben, denn für mich war sie pure Ablenkung. Wir sammelten unsere Materialien zusammen, die wir für den Aufbau brauchten und ich blieb mit wenig anderen zurück, da keine Träger mehr übrig waren. Keiner sagte etwas, sondern alle drückten sich vor den Schränken herum – ob sie Zeit schinden wollten? „Frau Sander?", fragte ich also, die noch in der Tür stand, „Haben wir noch Träger?" Sie kam auf mich zu, sah mich an, richtig an und ihre grasgrünen Augen glitzerten, als sie diese zusammenkniff. „Sind keine mehr im Schrank?", sie gesellte sich zu mir und der Duft von Rosen ergriff mich. Ich schüttelte nur meinen Kopf, da ich meiner Stimme plötzlich nicht mehr traute und mich fragte, warum mein Herz so donnerte.
Der Unterricht war vorbei und ich erwischte mich dabei, wie ich trödelte, nur damit ich länger in ihrer Nähe sein konnte. Sie blickte von ihrem Buch auf, zog eine Braue in die Höhe und fragte: „Es ist Pause, willst du nicht deine Freizeit genießen?" „Ich dachte, ich helfe Ihnen noch beim Aufräumen?", fragend sah ich mich um, da es hier, wie auf einem Schlachtfeld aussah, „Herr Meier lässt uns nach Versuchen immer aufräumen, sollten Sie beim nächsten Mal auch versuchen." Nun lachte sie aus tiefstem Herzen: „Touché! Ich muss zugeben, ich habe nicht darüber nachgedacht, als ich euch aus dem Unterricht entlassen habe. Wir machen im Grundkurs so selten Versuche." „Unterscheidet sich der Unterricht sehr vom Leistungskurs? Manchmal frage ich mich, ob ich die richtige Wahl getroffen haben mit dem Leistungskurs", gab ich zu und fragte mich, warum ich so viel redete. Nervös zupfte ich am Arm meines Pullovers, als Ablenkung von ihrer Aura. Sobald diese Frau lächelte, versprühte sie einen Charme, der einem die Luft zum Atmen nahm und ich wusste, dass es nicht nur mir so ging. Ich hörte die Jungs aus unserem Jahrgang und auch den anderen über sie sprechen – was mich wütend stimmte. Eine weitere Emotion, die ich nicht einordnen konnte. „Wir behandeln längst nicht so viel Stoff wie ihr im Leistungskurs und vor allem nicht so ausführlich", sie stand von ihrem Stuhl auf und bewegte sich langsam auf mich zu, um die ersten Materialien zusammenzusuchen, „Ich hätte gerne mal wieder einen Leistungskurs, aber dieses Jahr sollte es wohl nicht so sein." Sie zuckte mit den Achseln und ich begann die Reagenzgläser einzusammeln. „Was ist Ihr Lieblingsthema?", hakte ich nach und wir verfielen in einen angenehmen Plausch.
Es war der Anfang vom Ende – der Beginn meiner Gefühle, der Erkenntnis über mein Sein und das Ende meiner Unbedarftheit.
Wir betraten Hand in Hand das Café, es fühlte sich surreal an. Wie eine Parallelwelt, in der ich meinen Traum lebte. Ich entdeckte Anni im hinteren Teil des Cafés, neben ihr saß Yvi, die ihr gerade etwas auf dem Handy zeigte. Ich strich Michelle beruhigend über den Arm, die ich so nervös überhaupt nicht kannte: „Mach dir nicht so einen Kopf, sie werden dich mögen." „Anni kenne ich theoretisch schon", murmelte sie, „Das macht es nicht besser." Michelle sorgte sich, weil Anni sie auch als Lehrerin kannte, während Yvi sie einfach nur als Michelle kennenlernte. Natürlich kannte sie all die Geschichten, aber sie konnte es nie komplett nachempfinden, weil sie nicht mit uns zur Schule gegangen war. Ich wusste, Michelle wollte meine Freundinnen beeindrucken, einen guten Eindruck hinterlassen, doch ihre Sorge war unbegründet. Alles, was meine Freundinnen wollten, war eine glückliche Freundin und die war ich. Ich strahlte über das ganze Gesicht, als wir am Tisch der beiden ankamen. Sie blickten auf und beiden war die Freude anzusehen, uns endlich als Paar kennenzulernen. Michelle stellte sich vor, mit einem humorösen Einsatz, damit es auch für Anni nicht so komisch war und nahm der ganzen Situation damit die Anspannung. „Endlich darf ich dich auch beim Vornamen nennen", witzelte Anni, „Immer musste ich von Frau Sander sprechen." Michelle warf mir einen langen Blick zu, dann lachte sie laut drauf los: „Lea hat also von Michelle gesprochen und du von Frau Sander? Das fühlt sich so falsch an." „Ach was", warf ich direkt ein und auch Yvi schüttelte den Kopf, „War einfach eine Sache der Gewohnheit, nicht wahr, Anni?" „Korrekt, es freut mich auf jeden Fall, dich jetzt richtig kennenzulernen", Anni reichte uns die Karte, „Und jetzt sucht euch etwas Leckeres aus, wir verhungern schon." „Ich weiß schon, was ich nehme", sagten Michelle und ich fast im Einklang. „Karottenkuchen?", fragte ich lachend und Michelle bestätigte meine Vermutung. „Und einen Latte Macchiato", fügte sie hinzu und wir verschränkten unsere Hände miteinander. „Das war gruselig", wisperte Yvi und der ganze Tisch verfiel einem kleinen Lachanfall. „Oh ja", Anni lächelte mich an und ich erkannte an ihrem Blick, dass sie sich wirklich für mich freute, „Aber auch süß."
Es war schön zu sehen, wie gut meine Freunde mit Michelle auskamen, sie harmonierten auf einer Ebene, mit der ich nie gerechnet hätte. Ich wusste, meine Freunde würden sie mögen, doch ganz sicher konnte man sich nie sein. Es gab zu viele Faktoren in unserer Vergangenheit, die bei ihnen für Vorbehalte hätten sorgen können, doch jetzt genau das Gegenteil zu erleben, fühlte sich unendlich gut an. All meine Sorgen und Ängste waren unbegründet gewesen und dabei kannte ich meine Freunde doch am besten. Zugegebenermaßen hatte mir Anni die größten Sorgen bereitet, sie hatte mich wirklich oft vom Boden auflesen müssen, wenn ich vor Trauer fast umgekommen war. Es gab Tage, an denen hatte sie mich aus dem Haus schleifen müssen, mich zu Aktivitäten überredet, unsere Freunde mit einbezogen. Sie kannte das Ausmaß meiner Verliebtheit zu Schulzeiten, meine destruktive Art, meine toxische Abhängigkeit, nach einem simplen Gruß.
Beruhigt lehnte ich mich zurück und lauschte den Gesprächen der drei wichtigsten Frauen in meinem Leben. Sie sprangen von simplen Themen, wie Lieblingskuchen, -band und -farbe, zu höchst komplexen Themen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Es war verrückt zu sehen, dass sie ähnlich miteinander harmonierten, wie Michelle und ich. Gedankenverloren kreisten meine Finger über Michelles Handrücken, die mir immer wieder ein zartes Lächeln schenkte, wenn der Moment es zuließ. Ich genoss mein Schweigen und das angeregte Gespräch der anderen, es gab mir so viel mehr als ich zu hoffen gewagt hatte. Seelenfrieden. Eine Zufriedenheit, die sich nicht in Worte fassen ließ. Nach all dem Trubel der letzten Jahre, meiner gescheiterten Beziehung mit Phillip und seinem Betrug, unserem Wiedertreffen und meiner Arbeit, fühlte ich mich endlich angekommen, zufrieden. „Und du willst dich woanders bewerben?", riss mich Anni aus meinen Gedanken und ich grinste sie ertappt an. „Ja, es wird Zeit. Ich halte es dort nicht noch länger aus", erklärte ich und Yvi nickte zustimmend. „Sie nehmen uns aus! Ich habe nächste Woche mein zweites Gespräch bei einer großen Firma und ich habe Lea empfohlen, es dort ebenfalls zu versuchen. Sie suchen mehrere Leute, da sie die Abteilung neu aufbauen", Yvi nahm einen großen Schluck von ihrem Wasser, was ich ihr nachtat. „Einen Versuch ist es wert", erwiderte ich, „Aber bei Bewerbungen tue ich mich immer etwas schwer, ihr wisst ja..." „Ich erinnere mich lebhaft", knurrte Anni und ich sah die Wut in ihren Augen aufblitzen, „Ich kann es manchmal immer noch nicht fassen, wie man so ein Arschloch sein kann." Michelle blickte mich fragend an und ich hasste es, dass es zu diesem Thema kam, doch an dieser Stelle sollte ich sie besser aufklären. „Wie soll ich es sagen", fing ich an und biss von meinem Kuchen ab, „Phillip hat alles schlecht gemacht, was ich geschrieben und formuliert habe. Er hat mir oft von Bewerbungen abgeraten, auch in den letzten Monaten und..." „Moment mal, war er es nicht, der dir gesagt hat, dass sie dich bei deiner Arbeit ausnehmen und du es dir nicht gefallen lassen sollst?", unterbrach mich Michelle, die meine Hand fester umgriff. „Schon, aber das bedeutete für ihn nicht, dass ich gut genug für andere Job bin", es kam mir falsch vor, die Worte auszusprechen, aber sie waren die Wahrheit. Mittlerweile war genug Zeit vergangen und ich hatte verstanden, was hinter seinen Worten und Taten stand, auch wenn ich den tieferen Sinn dahinter nicht nachvollziehen konnte. „Phillip war kontrollierend und wollte mich kleinhalten", sagte ich achselzuckend, als hätte mir die Erkenntnis vor Wochen nicht noch das Herz ausgerissen. „War wohl sein schlechtes Gewissen", fügte Anni hinzu und keiner sprach aus, was sie damit sagen wollte, wir wussten es auch alle so. „Wir machen heute Abend die erste Bewerbung fertig, was meinst du?", Michelle drückte ihre Schulter gegen meine und lächelte mich so bezaubernd an, dass Schmetterlinge in meinem Bauch aufstoben, „Die eine ist so gut wie fertig, ich lese drüber und dann kann sie raus."
Michelle hatte mir versprochen, meine Bewerbungen gegenzulesen, da meine Unsicherheit überwog und ich die Bewerbung niemals einfach so weggeschickt hätte. „Gerne, sehr gerne", antwortete ich erleichtert, da ich mir ihrer Unterstützung immer gewiss sein konnte. „Vielleicht sind wir dann wieder Kolleg:innen", schaltete sich Yvi ein, „Das wäre doch schön, oder?" Nickend stimmte ich ihr zu und lenkte das Gespräch wieder in seichtere Gebiete, ich wollte nicht länger über meine Arbeit oder auch Phillip reden. „Wollen wir nächste Woche zum Bowling?", fragte ich deshalb und schon drehte sich alles um unsere Wochenendplanung.
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Das Echo der Erinnerung (gxg)
RomanceIn einer Zeit, in der Gefühle verboten scheinen, fand Lea in ihrer Lehrerin Michelle Sander etwas, das sie nie erwartet hätte - eine Verbindung, die tiefer ging als jede Schulregel es erlaubte. Als Lea ihrer Lehrerin ihre Gefühle gestand und danach...