Kapitel 3

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Alles woran ich denken konnte, war der Zettel in unserem Müll. Jede Minute meines Arbeitstages, knabberten Frau Sanders Worte an meiner Konzentration, brachten mich fast um den Verstand. Wusste diese Frau eigentlich, was sie mir mit dieser Aktion antat? War sie noch genauso egoistisch wie damals? Allein an ihre Reaktion zurückzudenken, katapultierte mich in eine Spirale zurück, von der ich geglaubt hatte, ihr entkommen zu sein. Bisher hatte ich es nicht übers Herz gebracht, mit irgendwem detailliert über mein Aufeinandertreffen mit Frau Sander zu sprechen. Annika wusste es zwar, aber nicht, wie sehr es mich aus dem Konzept gebracht hatte. Und sie wusste nichts von dem Zettel. Seufzend öffnete ich ein neues Dokument, legte die korrekten Seitenmaße an und überflog ein weiteres Mal das Briefing des Kunden. Wenn ich so weitermachte, würde ich heute keinen Entwurf mehr fertigstellen. „Brauchst du Hilfe?", kam es von der Seite und Yvi riss mich damit aus meiner Trance. Ich schüttelte den Kopf und starrte weiter auf die leere Seite. „Bist du dir sicher? Du starrst seit einer halben Stunde ein Loch in deinen Bildschirm", Yvi musterte mich verstohlen und ich schürzte die Lippen. „Nein, ich brauche aber einen Kaffee, willst du auch einen?", lenkte ich ab und erhob mich von meinem Platz. „Gerne", nun richtete sie sich ebenfalls auf und wir gingen schlurfend Richtung Kaffeemaschine, „Und verrätst du mir jetzt, was dich bedrückt?" Ich schwieg, bis wir mit unseren Tassen vor der Maschine standen, Yvi kannte meine Gewohnheiten bereits und drängte mich zu keiner Antwort. „Ich habe gestern auf der Veranstaltung jemanden wiedergesehen", erklärte ich und realisierte, wie seltsam das klang. Deshalb schob ich schnell hinterher, „Keinen Ex oder so." „Sondern?", fragte sie sanft nach. Die Kaffeemaschine vor uns zischte leise und der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee breitete sich in der Luft aus. Ich schob meine Tasse einen Millimeter zurecht und erntete einen kritischen Blick von meiner Kollegin. „Ich habe dir doch von Michelle Sander erzählt", es auszusprechen tat gut und war erstickend zugleich, „Meiner Lehrerin vom Gymnasium?" Yvi nickte und ihre Augen traten leicht hervor: „War sie etwa dort? Habt ihr miteinander gesprochen?" Yvi war einer der wenigen Menschen, die spät in mein Leben getreten war und doch so viel von mir wusste, als ob sie mich bereits seit Jahrzehnten kannte. Ich spürte ihre Aufregung auf mich übergehen und das schlechte Gewissen gegenüber meinem Freund, machte sich wieder in mir breit. Ich drosselte meine Euphorie und ersetzte sie wieder durch das niederdrückende Gefühl der Schuld, was gleichzeitig die Wut in mir entfachte. „Sie war dort und hat mich angesprochen...", ich biss mir auf das Innere meiner Wange und ließ meinen Nacken knacken, indem ich meinen Kopf zur Seite streckte, „Sie hat mir einen Zettel in die Handtasche gesteckt..." „Einen Zettel?!", quietschte Yvi und ich bedeutete ihr mit einem strengen Blick, leiser zu sein. „Jap, sie will mit mir sprechen... und hat mir ihre Nummer hinterlassen", wisperte ich und ignorierte mein pochendes Herz. „Das ist nicht dein Ernst!", Yvi war nun ganz aus dem Häuschen, doch sie versuchte sich zu beruhigen und fügte etwas leiser hinzu, „Was ist denn in die Frau gefahren? Hast du ihr geschrieben?" „Nein?!", erwiderte ich pikiert, da ich stolz darauf war, den Zettel einfach weggeschmissen zu haben, „Was sollte das bringen? Was hat sie all die Jahre nach meinem Abgang mit mir zu besprechen? Da gibt es nichts mehr zu bereden, da war nie was." Yvi kniff die Augen zusammen, schob ihre Tasse unter die Maschine und dachte für einen Moment nach. Als sie sich ihre Worte zurechtgelegt hatte, murmelte sie: „Nun ja, immerhin hat sie dir damals auch die Chance gegeben, mit ihr zu reden. Sie hätte das nicht machen müssen und hat es trotzdem getan." 

Ihre Worte fühlten sich wie Zentnerschwere Steine an, die mich zurück auf den Boden der Tatsachen drückten und ein schlechtes Gefühl in der Magengrube hinterließen. Yvi hatte Recht, auch wenn ich nicht einordnen konnte, warum Michelle Sander jetzt mit mir reden wollen würde. 10 Jahre später? Vielleicht hat sie sich auch nur dazu verpflichtet gefühlt, als sie mich auf der Party gesehen hatte. „Ich weiß nicht", setzte ich an, doch Yvi unterbrach mich mit einem Kopfschütteln. „Du musst ihr nicht antworten, das wollte ich damit nicht sagen", erklärte sie und klopfte mir kurz auf die Schulter, „Aber jemanden anzuhören, ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Vielleicht will sie sich auch nur entschuldigen." „Wofür sollte sie sich bitte entschuldigen? Das hat sie gestern auch schon getan und mir fällt einfach nichts ein, wofür sie sich entschuldigen müsste. Wenn dann wäre ich diejenige, die ihr eine Entschuldigung schuldig ist", ich zuckte mit den Schultern und dachte an den leicht verzweifelten Unterton in ihrer Stimme zurück. „Ich weiß es nicht, aber du wirst es auch nicht erfahren, wenn du ihr nicht schreibst. Zudem würdest du dich vermutlich die nächsten Jahre fragen, was sie wohl von dir wollte", Yvi nahm ihren Kaffee und wir gingen zurück zu unserem Büro, „Willst du mit dieser Ungewissheit leben, oder damit abschließen?" „Nun ja", ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee, blickte nach draußen auf unseren Parkplatz, „Eigentlich war das damalige Gespräch mein Abschluss, dieses Thema jetzt wieder aufzuwärmen, erscheint mir falsch. Es ist Jahre her, ich bin in einer glücklichen Beziehung, angekommen... Damals war ich ein Teenager, jung und dumm, von der Verliebtheit geblendet. Ich weiß nicht, ob ich mich dieser ganzen toxischen Sache nochmal aussetzen sollte." Yvis Blick huschte zu meinem Arm und ich schob ihn unauffällig aus ihrer Sichtweite. „Das stimmt natürlich und es ist deine Entscheidung, Lea. Dein Leben und deine Einschätzung, wie du mit der Situation umgehen willst. Ich wollte dich mit meinen Worten nicht drängen, ich weiß, wie sehr dich das damals belastet hat... Man hört es auch jetzt noch heraus", beschwichtigte sie mich und ich schluckte schwer, „Überleg einfach, ob du ihr diese Chance geben willst, oder nicht. Und vor allem, was es mit dir machen würde." Mit diesen Worten beendeten wir das Gespräch rund um Frau Sander und ich war nicht ein bisschen schlauer, denn sie war noch immer in meinen Gedanken, vielleicht sogar schlimmer als vor unserem Gespräch.

Ich bog gerade um die Ecke, als ich gegen eine Person lief und ein geräuschvolles „Uff" verklingen ließ. Blätter flogen im Schulflur umher und ich erholte mich von dem Schock und der Schulter, die in meinem Brustbein gelandet war. „Tut mir leid", nuschelte ich und erhielt im selben Atemzug ebenfalls eine Entschuldigung. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper, bevor ich Zeit hatte zu realisieren, in wen ich da reingerannt war, hatte mein Körper bereits eindeutige Signale gesendet. Unsicher blickte ich auf und sah direkt in Frau Sanders grüne Augen. „Alles okay?", fragte sie besorgt, „Da sind wir ganz schön ineinandergelaufen." Sie deutete auf den Blätterhaufen um uns herum, was mich zum Lachen brachte. „Ja, bei Ihnen auch?", hakte ich nach und bückte mich bereits nach den ersten Blättern. Ich versuchte meine zitternden Finger zu kaschieren, indem ich sie möglichst schnell nach Blättern greifen ließ und hoffte inständig, dass Frau Sander es nicht bemerken würden. Eine Hand an meiner Schulter ließ mich zusammenzucken. „Wirklich alles gut? Hast du dir wehgetan? Du zitterst", stellte sie fest und ich biss mir schmerzhaft fest auf die Innenseite meiner Wange. Ich sah nicht zu ihr, denn meine Augen hätte jede Emotion hergegeben, die gerade in mir wütete. Der Zufall darüber, dass ich ausgerechnet mit Frau Sander zusammengestoßen war, ihre Berührung an meiner Schulter, meine generelle Angespanntheit was sie betraf. Vorsichtig drehte ich meine Schulter aus ihrer Berührung und machte mich weiter daran, die Blätter aufzuheben: „Ja, alles in Ordnung. Ich habe heute einfach noch nichts gegessen." Mir entging nicht wie sie einen kritischen Blick auf die Uhr warf und wieder zurück auf mich blickte: „Es ist 13 Uhr, da solltest du schon gegessen haben."
Der kritische Blick wandelte sich in so etwas wie Sorge und ließ mein Herz schneller schlagen. Bevor ich mich in dieser Situation verrennen konnte, reichte ich ihr die ersten Blätter und bemerkte mit Schrecken, wie wir nach demselben Blatt griffen, das zwischen uns auf dem Boden lag. Die Berührung unserer Fingerspitzen brachte einen Stromschlag mit sich, den ich zuvor noch nie verspürt hatte. Wie vom Donner gerührt ließ ich das Blatt fallen, schaute sie entgeistert an und nuschelte: „Ich muss weiter, der Unterricht ruft." Nun wirkte sie vollends verwirrt, nickte allerdings nur und wünschte mir einen schönen Tag.

Aus dieser Frau würde ich niemals schlau werden.

Das Echo der Erinnerung (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt