„Haben wir alles?", Phillip reichte mir meine Handtasche und ich nickte. „Das sollte alles sein. Die Regenschirme sind im Auto?", fragte ich nach, warf einen prüfenden Blick in unseren Flur und griff nach meinem kleinen Koffer. „Die sind im Auto, Reisepässe habe ich in deine Handtasche gepackt", bestätigte mein Freund und bugsierte mich Richtung Haustür, „Dann wollen wir die beiden mal abholen." Wir machten uns auf den Weg zu Annika und Marco, die mit uns gemeinsam für einen Viertägigen Ausflug nach London flogen. Ich freute mich seit Wochen auf unseren gemeinsamen Trip, auch wenn meine Laune, durch meinen vorigen Streit mit Phillip, getrübt war.
„Es kann doch nicht sein, dass du dir das von deiner Arbeit ständig gefallen lässt! Hau jetzt endlich auf den Tisch und sag denen, dass es so nicht weitergeht", schimpfte Phillip und warf wild gestikulierend die Hände in die Luft, „Du musst endlich mehr Rückgrat beweisen, sonst schubsen die dich rum, wie sie wollen." „Was soll ich schon dagegen sagen, er ist mein Chef", wich ich aus und zupfte nervös an meinem Unterarm, „Wenn es vor meinem Urlaub fertig werden muss, kann ich kaum einfach Nein sagen!" „Natürlich kannst du das! Dein Urlaub ist denen seit Wochen bekannt, der führt dich vor! Schaut wie weit er gehen kann. Mensch Lea, du musst einfach lernen Nein zu sagen!", fuhr mein Freund mich an und ich zog einen Mundwinkel nach unten, „Schau mich nicht so an, ich meine das ernst. Der Typ hat es auf dich abgesehen, sprich mit der Personalabteilung oder keine Ahnung. Du machst das jetzt nicht mehr fertig!" „Ich muss", presste ich hervor, da ich bereits komplett von der Eskalation auf der Arbeit ausgelaugt war, „Die Personalabteilung interessiert es nicht, sie stehen in solchen Situationen immer hinter ihm. Yvi ist es letztens genauso ergangen." „Du bist nicht Yvi und du fährst jetzt nicht nochmal zur Arbeit, es ist 20 Uhr!", mein Freund fuhr so aus seiner Haut, dass ich es kaum mehr wagte etwas zu erwidern.
„Wir sehen uns später", sagte ich und machte mich auf den Weg zur Haustür, „Mir wäre es auch lieber gewesen, es wäre nicht so, aber ich kann es nicht ändern. Kannst du mich nicht doch kurz fahren? Dann bin ich schneller wieder hier. Oder ich nehme dein Auto?" „Nein", er strafte mich mit Ignoranz und packte weiter seinen Koffer, „Ich habe dir gesagt, du sollst nicht zurück zur Arbeit und du tust es trotzdem." „Soll ich meine Arbeit verweigern und riskieren, meinen Job zu verlieren?", Verzweiflung schlich sich in meine Stimme, doch er ignorierte sie. „Du bist zu wertvoll, als dass sie dich rausschmeißen würden. Außerdem hast du heute schon mehr als 10 Stunden gearbeitet, die nehmen dich aus und du lässt es zu", er beendete nun vollends unser Gespräch und ging ins Bad. Seufzend zog ich meine Schuhe an und machte mich auf dem Weg zur Arbeit, ausgerechnet heute war mein Auto noch in der Werkstatt und den Schlüssel vom Auto meines Freundes, befand sich in seiner Hosentasche.Ich war kaum aus der Haustür, da klingelte mein Handy, in der Erwartung, dass es mein Freund sein könnte, ging ich direkt ans Telefon. Doch die Stimme gehörte zu Michelle, die mich nach meinem beschissenen Arbeitstag fragen wollte, von dem ich ihr bei WhatsApp berichtet hatte. „Schlechter Zeitpunkt", nuschelte ich, „Ich muss nochmal zu besagter Arbeit, ein Projekt muss raus, Anweisung von oben. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin." „Bitte was?", fragte sie pikiert, „Moment mal, aber dein Freund bringt dich zur Arbeit, oder? Es ist so laut bei dir, bist du etwa zu Fuß unterwegs?" „Nein, er will mich nicht hinbringen, er findet, ich sollte meine Arbeit verweigern", erwiderte ich und konnte ein genervtes Schnauben nicht unterdrücken, „Als ob ich das gerne mache, vor allem so kurz vor unserem Urlaub." „Ich bringe dich hin, ich bin eh gerade auf dem Weg nach Hause, da kann ich auch kurz bei dir rumkommen und dich einsammeln", schlug Michelle vor und als ich verneinen wollte, fuhr sie fort, „Keine Widerrede, du läufst mir nicht im fast Dunklen allein durch die Stadt und das halbe Industriegebiet. Gib mir fünf Minuten, ja?"
Keine fünf Minuten später, saß ich wieder im Mini meiner ehemaligen Lehrerin. Ihr Duft umfing mich und sie schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln: „Was meinst du, wie lange du für das Projekt brauchen wirst?" „Hm", ich legte den Kopf schief und ging die Schritte chronologisch im Geiste durch, „Ich denke ein oder zwei Stunden, je nachdem wie aufwendig es sich gestaltet." „Dann warte ich im Auto auf dich", es schien bereits beschlossen, denn sie startete ihr Auto und fuhr mit mir Richtung Arbeit. „Das brauchst du nicht, ehrlich. Ich schaue, ob noch ein Bus zurückfährt", es fühlte sich falsch an, ihre Zeit in Anspruch zu nehmen, während mein Freund sich weigerte, mir diesen kleinen Gefallen zu tun, den Michelle so selbstlos anbot. „Nein, um diese Uhrzeit sind in dieser Gegend nur komische Leute unterwegs", sagte sie geistesabwesend und biss sich auf die Unterlippe, „Ich warte auf dich." „Ich wäre eine der komischen Leute im Bus", erwiderte ich grinsend, „Die kommen bestimmt auch alle von der Arbeit." „Um 22 oder 23 Uhr am Abend? Wohl kaum", ihre Augenbrauen hüpften nach oben und ich presste meinen Kopf gegen die Lehne. „Widerrede ist zwecklos, was?", lächelnd drehte ich mich zu ihr und beobachtete, wie ihr Kehlkopf auf und ab sprang. „Widerrede ist zwecklos", bestätigte sie und warf mir einen Seitenblick zu, „Möchtest du mir erzählen was zu Hause los war?" „Nein, ich glaube nicht. Ich bin zu erschöpft, um das alles noch einmal durchzukauen", wehrte ich ab und erntete ein verständnisvolles Nicken, „Aber danke der Nachfrage und vor allem Danke, dass du mich bringst. Ich weiß das sehr zu schätzen." „Das ist überhaupt kein Problem, ich war eh gerade unterwegs", erklärte sie erneut, doch ich hob müde meine Hand. „Nein, ehrlich jetzt. Das ist nicht selbstverständlich und es ist auch überhaupt nicht deine Aufgabe oder dein Problem", ich blickte in die Ferne und beobachtete die Ampel, die wieder auf grün sprang, „Ich wäre auch zu Fuß gegangen, bin dir aber sehr dankbar, dass ich es nicht muss."
Michelle bedachte mich mit einem wissenden Blick, fragte aber gar nicht erst, warum Phillip mich nicht zur Arbeit brachte. Sie sah mir an, dass wir Streit gehabt hatten. Als ich in den Seitenspiegel blickte, sah ich wie rot meine Augen waren. „Ich mache das gerne", durchbrach Michelle die angenehme Stille, „Immerhin sehe ich dich nochmal vor deinem Urlaub, hat doch auch einen Vorteil." Lachfalten umspielten ihre Augen und ich grinste sie verlegen an. Wenn ich ehrlich war, hatte ich sie vermisst. Unser Ausflug nach Münster war gute drei Wochen her und seitdem hatten wir auch nicht viel geschrieben - was vermutlich zum größten Teil an mir lag. „Tut mir leid, dass ich mich so wenig gemeldet habe", entschuldigend zuckte ich mit den Schultern, „Es war viel los und..." „Du brauchst dich weder entschuldigen, noch rechtfertigen, Lea", erklärte Michelle, die gemerkt hatte, dass ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte und hielt an der nächsten roten Ampel, „Du bist mir keine Erklärung schuldig, ich hoffe einfach nur, du hattest in Münster eine schöne Zeit und ich habe nichts falsch gemacht." „Was? Nein!", reflexartig legte ich meine Hand über Michelles, die auf dem Schaltknüppel zwischen uns ruhte, „Es war ein toller Tag, ich hatte lange nicht mehr eine so schöne Zeit! Habe ich dir das Gefühl gegeben, du könntest etwas falsch gemacht haben?" Erst als Michelles Augen zu unseren verschränkten Händen glitten, bemerkte ich, wie selbstverständlich mein Daumen über ihre Handfläche glitt. Schnell, aber nicht wie von einer Tarantel gestochen, ließ ich ihre Hand los und fuhr mir verlegen durchs Haar. Michelle kommentierte es nicht, sondern wirkte etwas überrumpelt, als sie antwortete: „Jein, ich war nur verunsichert, weil du nur noch sporadisch geantwortet hast. Aber alles gut, jetzt weiß ich ja Bescheid." „Ich bin ein Idiot", witzelte ich und versuchte die Stimmung zu lockern, „Es war so ein schöner Tag und das habe ich dir nicht ein einziges Mal gesagt, oder? Danke für alles, was du an diesem Tag organisiert hast... und danke, dass du mir diesen Ort gezeigt hast, der war wirklich besonders." „Gerne", nun leuchtete ihr Gesicht auf und wir bogen auf den Parkplatz meiner Arbeit ab, „Da sind wir." „Ich weiß echt nicht, wie lange das dauert...", versuchte ich es erneut, damit sie ihre Zeit nicht mit Warten verschwendete. „Ich warte", sagte sie und legte den Kopf zur Seite, wobei sie ihre prägnante Ader am Hals darbot. „Oooooder", murmelte ich gedehnt und warf einen Blick auf das dunkle Bürogebäude, „Du kommst mit rein?"Die Autofahrt zum Flughafen gestaltete sich ruhiger als erwartet, Annikas Miene ließ darauf schließen, dass Marco und sie zuvor ebenfalls gestritten hatten. Die angespannte Stimmung dämpfte meine Vorfreude ein wenig, doch ich wollte während meines Urlaubs, nicht zu viel über meine Arbeit und den daraus resultierenden Streit nachdenken. „Wo wollen wir als erstes hin?", durchbrach ich die Stille und Anni warf mir einen dankbaren Blick zu. Nun blühte Marco auf, der bereits seit Tagen an der Planung einer Route war, da er bereits so oft in London gewesen war, dass er am besten beurteilen konnte, was sehenswert war. „Wir kommen mittags an, bringen unsere Koffer ins Hotel und dann gehen wir erst einmal in das Restaurant, was ich euch geschickt habe...", fing Marco an zu erzählen, doch ich hörte nicht mehr zu. Meine Freunde unterhielten sich angeregt, während ich meinen Gedanken nachhing. Sollte ich kündigen, mir einen neuen Job suchen? War ich glücklich in meinem jetzigen Job? Nein. Werde ich jemals zu 100% zufrieden sein, vermutlich nicht. Michelle hatte mich mit so vielen Fragen gelöchert, dass ich ihr auch jetzt noch Antworten schuldig war. Sie stellte die richtigen Fragen, ermutigte mich, wenn ich unsicher war und riet mir ab, wenn ich zu emotional entscheiden wollte. Ich zog mein Handy aus der Tasche und öffnete unseren Chat von gestern Abend. Seit sie mich zu Hause abgesetzt und ich mich zum wiederholten Male bedankt hatte, war der Chat leergeblieben. Seit mehreren Stunden widerstand ich dem Drang ihr zu schreiben, woher dieser kam, konnte ich nicht einordnen. Doch nun schwebten meine Finger wie automatisch über die Tastatur.
Lea, 09:12 Uhr
Wir sind jetzt auf dem Weg zum Flughafen, hoffentlich heben wir auch wirklich pünktlich ab.Michelle S., 09:14 Uhr
Habt eine gute Fahrt und später einen angenehmen Flug. Daumen sind gedrückt, sei einfach mal optimistisch. Hast du genug Schlaf bekommen?Schmunzelnd tippte ich mit meinem Finger an die Hülle meines Handys, bevor ich eine Antwort schrieb. Es war 23 Uhr geworden und im Bett lag ich erst gegen 0 Uhr, weshalb ich aktuell ziemlich müde war.
Lea, 09:17 Uhr
Danke dir :) Ich bin hundemüde, fünf Stunden Schlaf sind definitiv zu wenig. Bist du wenigstens ausgeschlafen?Michelle S., 09:19 Uhr
Uff, anstrengend. Schlaf doch jetzt ein bisschen? Ich hatte genug Schlaf, alles gut.Lea, 09:20 Uhr
Dann ist ja gut, hätte ich dir jetzt auch noch deinen kostbaren Schlaf gestohlen, würde ich mir das nie verzeihen. Ich bin dir noch was schuldig.Michelle S., 09:20 Uhr
Darauf komme ich nochmal zurück ;) – Schlaf ist wichtig.Gerade als ich eine weitere, schnelle Nachricht tippen wollte, schnippte der Finger meines Freundes vor meinem Gesicht herum. „Erde an Lea", zog er mich auf und alle im Auto lachten, „Was denkst du über den Plan?" „Klingt perfekt, danke fürs Planen", erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. „Hab ich doch gesagt", Philip grinste, „Dein Plan ist wie immer grandios."
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Das Echo der Erinnerung (gxg)
RomanceIn einer Zeit, in der Gefühle verboten scheinen, fand Lea in ihrer Lehrerin Michelle Sander etwas, das sie nie erwartet hätte - eine Verbindung, die tiefer ging als jede Schulregel es erlaubte. Als Lea ihrer Lehrerin ihre Gefühle gestand und danach...