Kapitel 14

847 77 13
                                    

Gedankenverloren packte ich Phillips letzte Sachen zusammen, die er in den nächsten Tagen abholen wollte. Überhaupt mal wieder von ihm zu hören, warf mich zwar nicht aus der Bahn, machte mich aber auch nicht glücklich. Ich wollte es einfach nur noch hinter mich bringen und die ganze Trennung hinter mir lassen. „Hast du mal wieder was von Michelle gehört?", riss mich Yvi aus meinen Gedanken und erwischte meinen wunden Punkt. Ich verneinte ihre Frage und schwieg, ich konnte nicht wieder über diesen Abend nachdenken.

Ich ging zurück ins Caesar's, zu meinen Freunden, die über eine Story lachten, die Elena ihnen gerade kredenzte. Wortlos nahm ich Platz, bestellte bei der nächsten Gelegenheit einen Drink und spürte nur wenig später Augen auf mir ruhen. Ich sah mich unauffällig um und dort saß sie, in der hintersten Ecke der Bar, doch ihr Blick war auf mich gerichtet. Der Arm eines Mannes lag um ihre Schultern und sie lehnte sich in seine Umarmung hinein. Michelle saß eng an ihn geschmiegt und ich erkannte den Mann von den Rheinbeats wieder. Es musste Ben sein. Im Kopf verglich ich sein markantes Gesicht und den Dreitagebart, mit dem Mann von dem Profilbild, welches sie während London in WhatsApp drin hatte und meine Erinnerungen an Rheinbeats bestätigten meine Vermutung. Das musste Ben sein. Der Mann an ihrer Seite. Ich presste die Lippen aufeinander, versuchte aber trotzdem ihr ein Lächeln zu schenken und zwang mich wegzusehen. Ich war schon wieder viel zu tief drin in meinem ganz persönlichen Drama. Jeder Schluck brannte in meiner Kehle und egal wie oft ich mich ermahnte nicht zu ihr zu schauen, mein Blick wanderte doch immer wieder zu ihr. Während ich es diskret versuchte, ruhten ihre Augen permanent auf mir. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, bis es nach Blut schmeckte und spülte den Geschmack direkt mit Gin fort. Ich beobachtete, wie Ben sich zu Michelle drehte, sie verliebt anlächelte und einen Kuss auf ihre Wange hauchte. Ich biss erneut zu und nun blutete die linke Wange. „Ich geh kurz zur Toilette", presste ich hervor, schob mich wieder an meinen Mädels vorbei und suchte die Toilette auf.
Der Druck auf meiner Brust erdrückte mich fast und ich musste mir langsam eingestehen, wieder etwas für Michelle zu empfinden. Oder immer noch. Ich schluckte schwer, nahm eine Kabine in Beschlag und presste mich gegen die Tür. Alles war schwarz, selbst der Boden, der im schummrigen Licht mysteriös funkelte. Mir war übel und meine Beine hielten mich kaum. Mein Herz riss Stück für Stück und vor meinem inneren Auge sah ich Michelle und Ben, der seine Lippen auf ihrer Wange legte. Sein Arm um ihre Schultern. Ich unterdrückte einen verzweifelten Laut und kniff mir schmerzhaft fest in meinen Unterarm. Alte Muster machten sich wieder bemerkbar, was mir Angst bereitete, Unmut mit sich brachte. Mein Fingernagel schabte immer wieder über dieselbe Stelle, bis es unangenehm wurde und ich davon abließ. Wieso nahm es mich so sehr mit? Wieso fühlte ich mich wieder wie mit 18?

9 Jahre zuvor.
„Ich schwöre dir, die Sander tanzt dort vorne mit einem jungen Mann. Frag nicht wie!", gackerte Fabio und rieb sich die Hände, „Sie dürfte sich auch gerne so an mir reiben." Entsetzt sahen wir unseren Kumpel an, Annis Blick huschte dabei zu mir, ich versuchte das unangenehme Gefühl in mir zu verdrängen und nichts anmerken zu lassen. Ich war ein Jahr aus der Schule und es war ein halbes Jahr her, dass wir miteinander gesprochen hatten. Ich war über sie hinweg.
Wir gingen zurück zur Tanzfläche und nichts bereitete mich darauf vor wie hart es mich treffen würde, sie tanzend mit einem Mann zu sehen. Sie trug ein enges Top, welches mehr als genug Haut zeigte und der Fantasie kaum Platz für Träumereien gab, dazu eine schwarze, hautenge Jeans, hohe High Heels und feuerroten Lippenstift. Der junge Mann war höchsten fünf Jahre älter als ich, ich schätzte ihn auf 24. Er schmiegte seine Hände an ihre Hüften, zog sie immer wieder an sich und vergrub seinen Mund an ihrem Hals. Anni war die Einzige, die von meinen Gefühlen für Frau Sander wusste, weshalb meine Freunde uns weiter in ihre Nähe trieben. Ich blieb an Ort und Stelle stehen, sah den Blick meiner besten Freundin, die besorgt dreinblickte, mich am liebsten davor beschützen wollte. Allerdings ahnte Helena nichts davon und zog mich mit sich, wir standen nun keine zwei Meter von ihnen entfernt. Ich konnte ihr typisches Parfüm riechen, es war noch immer dasselbe und meine Knie wurden weich.
Frau Sander drehte sich in den Armen des Mannes, blickte ihm in die Augen und küsste ihn. Ich sah noch, wie sich unsere Blicke trafen, aber da rebellierte mein Körper schon, mein Unterarm prickelte und ich eilte Richtung Toilette. Ich schloss mich ein, sank zu Boden, weinte bitterlich und suchte in meiner Handtasche nach etwas, was meine Sucht befriedigte. Ich war so kurz davor, da klopfte es an meiner Tür: „Lea? Bist du hier drin?" Ich sagte kein Wort, wollte nicht mit ihr reden, nicht nach unserem damaligen Gespräch, nicht nachdem, was ich da gerade gesehen hatte. „Lea, bitte", da war Verzweiflung in ihrer Stimme, Sorge, „Bitte mach die Tür auf." „Nein", antwortete ich nur, da hörte ich, wie sie ebenfalls zu Boden sank. Ihre Hand berührte meine, ihr Daumen strich über meine Knöchel und sie flehte: „Bitte, mach keinen Quatsch, ja?" Ich entzog ihr meine Hand und giftete: „Nur weil ich mich Ihnen anvertraut habe, heißt es noch lange nicht, dass es Sie jetzt etwas angeht!" Meine Stimme bebte, Wut sickerte durch mich hindurch und ich drückte aus Reflex einfach zu. „Lea!", nun klopfte Frau Sander vehement gegen die Tür, „Ich hole sonst jemanden, der die Tür öffnet." „Das wagen Sie nicht", zischte ich und erschrak mich darüber, wie biestig ich zu ihr war. „Willst du es rausfinden?", forderte sie mich heraus und ich rappelte mich hastig auf. Ich schob alles wieder zurecht, öffnete die Tür und keine zwei Sekunden später stand Frau Sander mit in der Kabine, die viel zu eng für uns zwei war. Ihre Hand schloss sich um mein Handgelenk, sie drehte sie vorsichtig und wisperte: „Warum, Lea?"

Auch jetzt sank ich gegen die Toilettentür des Caesar's, fühlte mich genauso verzweifelt und hilflos wie damals. Fast hätte ich über die Ironie der Situation aufgelacht, doch in mir war nur noch Leere. Meine Haare fielen mir wie ein Vorhang vors Gesicht und wieder sah ich nur Michelles grüne Augen, die mich liebevoll anblickten. Ich schüttelte meinen Kopf, schlug ihn sanft gegen das Holz hinter mir und seufzte. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Wie hatte ich glauben können, heil aus dieser Sache herauszukommen? Mein Fingernagel presste sich tiefer hinein, doch als ich Michelles Stimme hörte, fror jegliche Bewegung in meinem Körper ein: „Lea? Bist du hier drin?" Ihre Knöchel tanzten wie damals über das Holz und ich erwiderte: „Ja, bin ich. Ich bin auf Toilette." „Ich höre es raus, wenn du lügst", murmelte sie und ihre Hand fuhr an der Tür hinab, ich konnte es trotz der seichten Musik, die aus der Bar zu uns herüberdrang, hören, „Machst du mir auf?" „Ich kann nicht", es war kaum mehr als ein Flüstern, eine stille Bitte. „Bitte", war alles, was sie sagte und ich setzte mich in Bewegung. Diese Frau und ihre Macht über mich, es war sicherlich kein gesundes Maß an Macht.

Das Türschloss klang ohrenbetäubend laut, drehte sich mit Posaunen und Fanfaren und ließ Michelle zu mir in die Kabine. Immerhin war es hier nicht so eng wie damals in der Disco. Ihre Augen scannten mein Gesicht, blieben an meinen verweinten Augen hängen, meinen Lippen. Dann wanderten sie an mir hinab und ihre Finger schlossen sich um meine Fingerspitzen. Sie war behutsam, genau wie damals. Ihre Fingerkuppe glitt sanft über meinen Unterarm, ich hörte, wie ihre Atmung kurz stoppte, dann abgehackter klang als noch zuvor. Ob beabsichtigt oder nicht, ihr Körper lehnte sich mir entgegen, ihr Oberarm drückte gegen meinen und dabei verließen ihre Augen nicht zu einer Sekunde die meinen. Ihre Augenlider flatterten, dann lehnte sie sich vor und hauchte einen federzarten Kuss auf meine Stirn. Ihre Lippen, voll und weich, lagen nicht vollständig auf meiner erhitzten Haut, dennoch spürte ich ihre Wärme, die Feuchtigkeit. Ein Prickeln durchzog meinen Körper und Michelles Fingerspitzen fuhren an meinen Oberarm nach oben, an meinem Hals hinauf und vergruben sich kurz darauf in meiner Kopfhaut. Mit einem leichten Druck drückte sie meinen Kopf ein Stück weiter vor, sodass ihre Lippen nun vollständig an meiner Stirn lagen. Sie atmete tief aus und ein warmer Luftstoß glitt an meinem Gesicht hinab. Mich durchfuhr ein aufgeregtes Kribbeln, es war spannend und überwältigend zugleich. Ungewohnt, unbekannt und doch das unwiderstehlichste Gefühl, das ich je vernehmen durfte. Ihre Lippen lösten sich sanft, nur um sich kurz darauf einen Zentimeter weiter links wieder auf meine Haut zu legen. Ihre Hand lag nun vollständig an meinem Kopf, ihre Fingernägel fuhren bestimmt über meine empfindliche Haut am Nacken, hoch zu meinem Scheitel. Mir entwich ein Seufzen, welches Michelle mit einem weiteren federzarten Kuss auf meinen Haarschopf quittierte. Sie löste sich vorsichtig von mir, musterte mich und sagte: „Ich werde immer für dich da sein, Lea. Doch gerade brauche ich etwas Abstand." Ich schluckte schwer, versuchte das Geschehene zu verarbeiten, zu verstehen warum sie so handelte und nun diese Worte sprach. Jedoch schaffte ich es nicht zu antworten, denn sie fuhr fort: „Bitte gib mir etwas Zeit. Den Abstand, den ich benötige. Ich muss mir über so vieles Gedanken machen, mit mir ins Reine kommen." Schweigend nickte ich, doch eine Träne rollte an meiner Wange hinab und ruinierte mein eh schon desaströses Makeup. „Weine nicht, ja? Bleib stark und mach keinen Mist. Versprich es mir", sie sah mir tief in die Augen, strich die Träne fort und öffnete langsam die Tür hinter sich, „Und Lea? Ich bin dir noch immer eine Antwort schuldig..." Sie zögerte, drehte mir kurz den Rücken zu, so als wollte sie sich sammeln, dann fügte sie hinzu: „Ich habe dich damals beim Gespräch in der Schule angelogen."

Mit diesen letzten Worten ließ sie mich zurück und unter mir brach der Boden zusammen.

„Das waren die letzten Sachen. Die Regale baut er aber selbst ab, oder?", Yvi tupfte ihre Stirn mit einem Tuch ab und schob den letzten Karton mit dem Fuß Richtung Flur. „Ja, er kommt übermorgen mit Marco vorbei. Anni wird auch hier sein, Beistand und so", erklärte ich und sah mich in der Wohnung um. Sie war erschreckend leer, unpersönlich und erinnerte kaum nach an die Zukunft, die wir uns hier aufgebaut hatten. „Dann ist ja gut, sonst wäre ich natürlich auch gekommen", sagte sie achselzuckend und ich nickte dankbar. „Das weiß ich zu schätzen, aber du hast mir heute schon so viel geholfen, übermorgen kann Anni ran. Außerdem triffst du dich doch mit Arian, oder?", ein Grinsen huschte über das Gesicht meiner Freundin und ich knuffte sie in die Seite, „Seid ihr jetzt etwa zusammen?" Beschämt nickte sie und ich zog sie quietschend in eine Umarmung: „Ich freue mich sehr für euch! Ehrlich!" Ich bedeutete ihr mit einem Blick, meine Aussage nicht schon wieder anzuzweifeln, ich gönnte ihr jedes Glück der Welt. Auch wenn es mir grade vergönnt war. Irgendwann würden wieder bessere Zeiten kommen. „Aber offiziell erst seit gestern", erklärte sie und ich reicht ihr ein Glas Limonade. „Na komm, erzähl mir mehr davon", bat ich sie und bugsierte sie zu meiner Couch, „Ich bin neugierig."


Das Echo der Erinnerung (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt