Kapitel 20

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„10 Jahre Abi – das muss gefeiert werden", las ich erneut laut vor und schnaubte, „Ich will nichts feiern. Da habe ich ja gar keine Lust drauf." Annika strafte mich mit einem tadelnden Blick: „Deine Freundin wird auch da sein." „Wir werden vermutlich DAS Gespräch sein, darauf habe ich keine Lust", erwiderte ich. „Na und? Ihr seid erwachsen und erst seit kurzem zusammen, ist ja nicht so, als wärt ihr während der Schulzeit zusammengekommen", Annika pustete ihre Nägel trocken, die sie kurz zuvor mit blauem Nagellack verziert hatte, „Hab dich nicht so, Michelle wird auch da sein, das hat sie mir bereits bestätigt." Ich knurrte genervt und verfluchte es, wie gut die beiden sich verstanden. „Ihr zwei seid nervig", zog ich meine beste Freundin auf. „Du liebst uns", zwinkernd hielt Annika mir den roten Nagellack entgegen, „Und jetzt mach dich fertig."

Keine Stunde später schritten wir die Flure unserer alten Schule entlang. Ich fühlte mich wieder wie mit 18 und genauso fehl am Platz wie damals. Annika hatte sich bei mir eingehakt, Elena und Mara gingen gemeinsam mit Marco und Fabio hinter uns. An den Wänden der Kunstflure hingen Gemälde, die von Schülern angefertigt wurden. Früher waren die Wände kahl und trist. Es war Leben in die Schule gekommen, man merkte ihr an, dass sie nun schon länger existierte. Als wir damals auf diese Schule wechselten, gab es das Gebäude noch nicht allzu lange – es hatte sich alles geändert. Wir schauten uns um, verloren uns in vergangenen Erinnerungen, stressigen Schultagen und der Last des Erwachsenwerdens. „Verrückt wieder hier zu sein", sagte Elena, die früher im Kunst-Leistungskurs war und die Bilder in den Fluren betrachtete, „Wir durften damals nicht mal erwähnen, wie schön unsere Werke auf den Fluren aussehen würden. Als Herr Niemeyer es dem Kollegium vorgestelltm hatte, wurde ihm von der Direktorin fast der Kopf abgerissen." Wir lachten einheitlich, jeder wusste von der Predigt, die Herr Niemeyer sich eingeholt hatte, nachdem er die Möglichkeit der Präsentation in den Fluren angesprochen hatte. „Ich glaube, das wird niemand vergessen", gab Fabio zu, „Sie hat den armen Mann so zur Schnecke gemacht." Wir bogen um die nächste Ecke und erreichten unser Forum, das Forum, in dem ich damals das Gespräch mit Michelle geführt hatte. Flashbacks zogen mich in ihren Bann und meine Augen wanderten wie selbstverständlich in unsere damalige Ecke. Heute standen Getränkeautomaten und Bistrotische in der Ecke, veränderten die Erinnerungen an damals vollends. „Was haben sie nur mit unserer Ecke gemacht?", Mara schaute ungläubig in dieselbe Ecke. „Hässlich", Marco schlang seinen Arm um Annika, „Einfach nur hässlich. Das sah vorher viel besser aus mit der Holzbank und den Tischen." „Meine Schwester hat mir mal erzählt, dass dort zu viel randaliert wurde, weil die Ecke so schwer einsehbar war", erklärte Elena, deren kleine Schwester drei Jahre nach uns ihren Abschluss gemacht hatte, „Deshalb die Veränderung." „Als ob es bei den Getränkeautomaten nicht auch dazu kommt?", Annika brachte es auf den Punkt, denn der Automat sah ziemlich mitgenommen aus.

Wir entdeckten vor der Bibliothek Charlotte, Emma und Jonas, die ebenfalls viel Zeit mit uns verbracht hatten. Wir steuerten die kleine Gruppe an und verfielen in einen angenehmen Plausch. Es war bereits voll im Forum, aber noch waren nicht alle da. Ich sah mich unauffällig um, aber entdeckte Michelle nirgends.

Michelle ❤️, 19:15 Uhr:
Ich stehe noch oben auf der Treppe, falls du mich gesucht hast 😉

Verstohlen sah ich nach oben und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. Sie sah gut aus, verboten gut und ich erkannte genau, mit welchem Blick, mein ehemaliger Mathelehrer sie ansah.

Lea, 19:16 Uhr:
Erwischt! 😊
Gafft er dich immer so an? 😁 Das ist nicht sehr subtil.

Michelle ❤️, 19:17 Uhr:
Bitte hör mir auf, sein schmachtender Blick nervt nur noch.

Lea, 19:17 Uhr:
Da kann ich ja froh sein, dass dich mein Blick nie genervt hat.

Ich packte das Handy zurück in meine Tasche, fing den Blick meiner besten Freundin auf, die meiner Freundin oben auf der Treppe kurz zunickte und mich schelmisch angrinste. Bisher war meine Sorge unbegründet gewesen, allerdings waren wir auch noch nicht vor aller Augen aufeinandergetroffen. Bisher hatte mich nur eine Person auf die Beziehung zu unserer ehemaligen Lehrerin angesprochen und dafür war ich dankbar, denn das Gespräch war nicht unbedingt angenehm zu führen gewesen. Die Fragen, denen ich mich stellen musste, waren so verkehrt, dass ich meinen ehemaligen Mitschüler einfach stehenließ, als es mir zu viel wurde.
„Und was macht ihr jetzt beruflich?", fragte Marco die andere Gruppe, der sich schon seit Tagen auf dieses Treffen gefreut hatte. „Ich arbeite in der Finanzbuchhaltung", erzählte Charlotte, die schon immer ein Ass in Mathe gewesen war, „Zum Glück war mir immer klar, in welche Richtung es gehen soll." „Läufst du noch Marathon?", hakte Marco nach und ich nutzte den Moment, um Michelle dabei zu beobachten, wie sie sich endlich unter die Leute mischte. Andere Lehrer stießen dazu, weitere Mitschüler und irgendwann war das Forum voll bis unter die Decke.

Das Echo der Erinnerung (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt