Souk

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Ich habe aus Mailand herausgefunden, ich habe aus Palermo rausgefunden und ebenso aus Napoli. Ich kann mich in Venedig und Paris orientieren und weiß in San Francisco genau, wo ich bin. Ich bin sehr gut darin, mich überall orientieren zu können, habe einen inneren Kompass und viele Stadtpläne oder Landkarten im Kopf gespeichert. Aber Marrakech? Keinen blassen Dunst; keine Chance. Die Medina (= Altstadt) ist ein Gewirr von kleinen und kleinsten Straßen, Gassen und Durchgängen. Wenig ist angeschrieben und richtig benutzerfreundliche Pläne gibt es kaum. Sich in diesem Labyrinth orientieren zu können, braucht einige Tage des Verlaufens, der Suche und vor allem der Kommunikation.

Der Souk (= Markt) nimmt einen großen Teil der Medina ein. Tausende kleiner und kleinster Läden sind von bunten Waren vollgestopft - es ist eine gewaltige Reizexplosion, sobald man die ersten Toristenfallen* hinter sich gelassen hat. Den Souk zu beschreiben, das ist beinah ein Ding der Unmöglichkeit. Ich nehme euch einfach auf einen Rundgang mit. Bereit? Lasst uns losgehen.

Am Eingang befindet sich zu unserer Linken ein Silberschmied. Er bietet alles an, was man aus Silber formen kann. Um zu entscheiden, ob es sich dabei um echtes Silber handelt, gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, aber man könnte auch etwas daran kratzen, dann sähe man es schnell - nur lässt der Händler das selbstverständlich nicht zu. Die Waren sind allesamt kunstvoll geformt. Es gibt Buchzeichen, Ringe, Armreifen, Ketten, Amulette und vieles mehr. Selbstverständlich fehlen auch Silberbesteck und Teegedeck nicht.

Wir gehen weiter, rechts entdecken wir einen Laden mit Lederwaren. Wir können das frische Leder schon von weither riechen. Taschen, Beutel, Gürtel und Babouches (= Finken, Hausschuhe) werden angeboten. Sie sind in feinster Qualität handgemacht und bestimmt keine Importware. Der Händler mit seinem langen, grauen Bart und dem Hut, einem Fes - benannt nach der gleichnamigen Stadt - winkt uns freundlich hinein. Wir folgen ihm, der Ledergeruch umgibt uns, durchzogen von einer Spur Minze; wir setzen uns und genießen den süßen Tee, während wir die Babouches anprobieren und die richtigen Farben aussuchen.

Je weiter wir in den Souk vorstoßen, desto schneller können wir einheimisches Handwerk von billiger Importware unterscheiden. Wir bleiben mit der Zeit nur noch dort stehen, wo es etwas zu riechen, zu schmecken oder zu erleben gibt. Die Geschäfte mit den immer gleich aussehenden Artikeln überlassen wir den weniger aufmerksamen Touristen. Die Händler sind alle sehr freundlich und die Einladungen verlockend. Europäer sind sich diese Freundlichkeit nicht gewohnt. Sie verwechseln Geschäftssinn schnell mit wohlgemeinter Freundlichkeit, fast familiärer Atmosphäre. Hier empfiehlt es sich, mit einem einheimischen Führer unterwegs zu sein, um den Lockangeboten nicht aufzusitzen.

Allmählich wird es laut in den engen Gassen. Dutzende Motorroller erinnern daran, nicht in einer Markthalle sondern in der Altstadt zu sein. Mit echten Straßen und ihrem Verkehr. Zweitaktgemisch als bläulicher Auspuffgruß, süßlich-ölig, begleitet von der elektrischen Hupe und dem Knattern der Zylinder. Stimmengewirr, fröhlich oder gehässig, aber auf jeden Fall menschlich lebendig. Dann und wann ein Miauen einer Katze. Damit die Sonne nicht zu stark brennt, sind viele der Gassen mit einem Dach aus Holz oder Schilf bedeckt. Schattig; gleichzeitig bleiben die Abgase der Roller länger zwischen den Mauern hängen und überdecken die Gerüche unseres nächsten Stopps - beim Gewürzhändler.

Paprika, Pfeffer, Kümmel, Chilipulver, Curry, Raz-el-Hanout, Ingwer, Lavendel, ... die Aufzählung könnte noch ewig weitergehen. Die Gerüche steigen in die Nase, entfalten die buntesten Bilder und Geschichten im Kopf. Dazu gesellen sich die Bilder der Säcke oder Körbe, die fein aufgeschichteten Haufen bunter Pulver und Körner. Das hier ist die Quelle aller Reize. Hier möchte ich stehenbleiben und einfach nur genießen. In meinem Kopf brutzeln und köcheln die feinsten Gerichte; es entstehen Salben und Seifen. Ich schwebe auf einer Wolke, die orientalischer nicht sein könnte. Ein verführerischer Tanz der halb verschleierten Schönheit. Erotik fühlt sich wie eine Erholung dieser Reizüberflutung an.

Etwas weiter vorne biegen wir links in eine dunkle Seitengasse. Der schmale Weg windet sich, endet an einer Treppe, die wir hochsteigen. Oben gelangen wir durch eine Art Tor auf einen Platz und wähnen uns in einer anderen Welt. Es riecht nach Winkelschleifer, nach Schweissen, nach Rost und Eisen. Es hämmert und schleift an allen Enden. Gleich nebenan riecht es nach Holzstaub, nach Arve und Zeder, nach Holzöl und leicht verbranntem Holz. Wieder weiter vorne werden Wollstoffe eingefärbt oder Leder gegerbt. Wir sind in der Hintergasse angelangt. Hier werden die Waren, welche in den Hauptgassen feilgeboten werden, hergestellt. Hier sind die Handwerker, die wahren Künstler am Werk. Es klopft, hämmert, schleift, schmirgelt, blubbert und zischt. Schweissgetränkte Kleider auf stahlharten Oberkörpern. Lächeln aus dunklen Augen. Diese Ecke entdeckt man nicht, wenn man sich nicht auskennt. Ehrfürchtig sehe ich den Handwerkern bei ihrer Arbeit zu, dankbar darüber, diese Seite des Souks kennenlernen zu dürfen.

Wieder auf der Hauptgasse angelangt stoppen wir beim Zuckerbäcker und gönnen uns die leckern Süßigkeiten. Endlich wird auch der Geschmacksinn angeregt, nachdem wir bisher gehört, gerochen, gespürt, gefühlt und gesehen haben. Karamell, Honig, Mürbeteig, Kokos. Mmh, bitte lege noch etwas mehr davon in die überfüllte Tasche.

Wenn wir den Souk müde verlassen, so ist es nicht eine Müdigkeit der körperlichen Anstrengung sondern vielmehr die folge der Reizüberflutung. Wir kollabieren vor lauter Eindrücken. Sehr glücklich strahlend setzen wir uns in ein Straßenkaffee am großen Platz und gönnen uns einen gewürzten Latte Macchiato. Ich wünsche euch allen gute Erholung, vom Rande des Souks mitten in der Medina von Marrakech.

 Ich wünsche euch allen gute Erholung, vom Rande des Souks mitten in der Medina von Marrakech

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Mitten im Souk; © Bruno Heter, 2024

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*Touristenfallen nenne ich die Ramschwarenhändler, welche die Touristen mit billiger Importware aus China anlocken, meistens auch Plastikspielzeug anbieten, damit die Quengelkinder ruhig gestellt werden können. Nichts für mich, weltweit. Aber mein Schwager steht voll drauf.

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