17. Kapitel

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Achtung: In diesem Kapitel kommt DER EINZIGE Sichtwechsel in der Geschichte vor!

Jenneth:

Er saß neben Anastasia mit dem Rücken gegen die Mauer des Astronomieturms von Durmstrang. Das blonde Mädchen mit den hellblauen Augen hatte sich in den vergangenen Monaten von Charina distanziert und so hatte er sich mit ihr angefreundet. Sie sprachen nicht viel, nicht mit Worten, verständigten sich vorwiegend mit Blicken und Gesten. Nachdenklich strich Jenneth sich eine glatte Strähne aus dem Gesicht und streifte dabei die Narben, die sich von seiner Wange bis zu seinem Schlüsselbein zogen. "Charina ist eine blöde Nuss.", sagte Anastasia plötzlich. Blinzelnd wandte er ihr den Blick zu. "Ich weiß. Warum, was hat sie gemacht?" Anastasia schnaubte leise. "Es gehen Gerüchte um, sie hätte sich Professor Lakavić an den Hals geschmissen." Ungläubig hob Jenneth die Augenbrauen. "Einem Lehrer? Ach du großer Gott." Sie lachte auf. "Lakavić ist mindestens zwanzig Jahre älter als sie. Wie alt ist der? Warte... 37? Irgendsowas." "Ich glaube. Sie muss wirklich verzweifelt sein.", ergänzte Jenneth. Verzweifelt. War er das nicht auch gewesen? Selbst nach über vier Monaten, wenn nicht schon sechs, verfolgten ihn die zweifarbigen Augen noch in seinen Träumen. Plötzlich stand Anastasia auf, ihre Augenbrauen waren zusammengezogen, der Wind peitschte ihr die halblangen, blonden Haare in das elfengleiche Gesicht. "Hey, Jenn. Schau mal.", sagte sie. Langsam erhob Jenneth sich und trat neben sie an die Brüstung. Etwas kam da... angeflogen. Moment. Stirnrunzelnd verfolgte Jenneth, wie das etwas sich näherte. Es war offenbar aus Papier, hatte aber die Form eines Phönix. Er kam immer näher, näher, flog, drehte sich und landete auf Jenneths Handfläche, als er verdutzt die Hand ausstreckte. Kaum gelandet faltete er sich anders, so dass Jenneth erkennen konnte, was da stand:
Jenneth
In kyrillischen Buchstaben, schwungvoll, elegant, zeugten von Selbstbewusstsein. Und Jenneth hätte diese Schrift überall erkannt. Zischend atmete er ein. Gellert. Vorsichtig, er war sich nicht sicher, ob dieser Brief verflucht war, entfaltete er den Brief und las:

Jenneth,

Ich weiß nicht, ob du diese Worte je lesen wirst. Ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du es nicht tust. Das, was ich dir angetan habe, ist unverzeihlich und ich weiß das. Ich verstehe es inzwischen. Ich habe es begriffen. Mein Ehrgeiz und meine Arroganz haben mich geblendet, mich blind gemacht für das, was doch eigentlich menschliche Überzeugungen sind. Meine Gier nach den Heiligtümern hat mich geblendet, mich blind gemacht. Ich weiß das nun. Ich erwarte nicht, dass du diesen Brief bis zum Ende liest, aber lass mich erklären, was letztes Jahr geschah, das dafür sorgte, dass ich den Pfad einschlug, der dich fast getötet hätte: Du weißt, dass ich eine Schwester habe. Gina. (An dieser Stelle war das Papier gewellt und Jenneth begriff, dass es TRÄNEN waren, getrocknete Tränen. Seit wann weinte Gellert?!) Hatte. Ich sollte HATTE sagen. Sie ist tot, Jenneth. Schlimm genug, dass sie schon mit 5 Jahren starb, aber die Art, wie es geschah... Sie wurde entführt, meinen Armen entrissen, fortgeschleppt, missbraucht, erwürgt. Von Muggeln. Und meine Gedanken sind (waren) seither erfüllt von nur einem Beschluss: Ich muss die Heiligtümer finden, vereinen und als Meister des Todes Gina zurückholen. Ich konnte so lange an nichts anderes denken und das ist auch der Grund, warum ich... warum ich dich zurückließ. Ich weiß, ich lag falsch, ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, nicht so. Nicht so skrupellos, nicht so eiskalt. Gina hätte das nicht gewollt, ich weiß es. Es steht mir nicht zu, von dir deine Vergebung zu erbitten, Jenneth. Das tut es nicht, ich habe jedes Anrecht darauf verwirkt. Dennoch solltest du wissen, dass ich es bereue. Dass ich so fixiert auf die Heiligtümer war, dass ich dich im Stich gelassen habe, als du mich am meisten gebraucht hättest. Es tut mir leid, Jenneth! So sehr! Ich wünschte, ich hätte es nie getan und ich weiß, dass es falsch war. Ich würde es nicht noch einmal tun. Wirklich nicht. Verzeih mir nicht, ich verdiene es einfach nicht. Hasse mich, wenn du willst, es ist besser so. Vergiss mich und suche dir jemanden, der deiner würdig ist. Nicht wie ich, der ich dich in jeder einzelnen Sekunde, mit jedem Kuss, jeder Berührung, nur ausgenutzt hatte und sehnsüchtig auf den Moment gewartet hatte, da ich dich wieder loswerden würde. Ich weiß, dass ich dir das Herz gebrochen habe, wie so vielen anderen zuvor. Herzen zu brechen und grausam zu sein... Ich bin anscheinend sehr gut darin. Geh und lebe dein Leben, sei glücklich. Nicht um meinetwillen, sondern um deinetwillen, Jenneth. Tue es für dich. Eins noch, wenn du mir die Bemerkung erlaubst: Wende dich Anastasia zu, ich bin mir sicher, ihr werdet euch mögen. Du verdienst etwas besseres als mich.

Gellert

Jenneth ließ den Brief sinken, seine Hände zitterten. Das, was er da gerade gelesen hatte... Er hätte es nie erwartet. Nicht von Gellert. Doch nun... hatte er den Beweis in der Hand. "Jenn?" Anastasia klang fragend. Er blinzelte und sah sie kurz ausdruckslos mit seinen grauen Augen an. "Ich... Ich hab einen Brief von Gellert bekommen." Überraschung ließ ihre hellblauen Augen groß werden. "Wirklich?", sie zögerte. "Was... Was schreibt er?" Blinzelnd biss er sich auf die Lippen. "Dass es ihm leid tut, was... was er gemacht hat."
"Oh."
Jenneth nickte leicht und wandte den Kopf ab, Anastasia trat einen Schritt zurück, ließ ihm Raum, ließ ihm Zeit. Es steht mir nicht zu, von dir deine Vergebung zu erbitten, Jenneth. Mit einem tiefen Atemzug senkte er den Kopf. Natürlich wusste er, dass Gellert eine Schwester hatte - gehabt hatte - und er wusste auch, dass Gellert sie über alles geliebt hatte. Und plötzlich fiel ihm etwas ein, dass er schon fast vergessen hatte:

Es war Nacht, Jenneth zog die Stirn kraus und blinzelte. Etwas musste ihn geweckt haben. Verwirrt hob er den Kopf und sah ihn. Gellert. Halb im Bett aufgerichtet, den Kopf gesenkt, blonde Locken fielen in sein Gesicht, verdeckten die zweifarbigen Augen. Doch trotzdem konnte Jenneth gerade so das Glitzern auf seinen Wangen erkennen. Tränen. Und nun stieß er flüsternd, heiser, erstickt, ein einziges Wort hervor: "Gina..."

Zögernd strich Jenneth sich mit allen zehn Fingern seine glatten, braunen Haare aus dem Gesicht. Gellert war der Meinung, dass er Jenneths Vergebung nicht verdient hatte. Vielleicht hatte er das auch nicht. Aber Jenneth erinnerte sich wieder an den Schmerz in seiner Stimme in jener Nacht, an den Schmerz, der aus dem Brief sprach und... Er wusste, er musste Gellert vergeben. Nicht um seinetwillen, sondern für sich selbst. Langsam faltete er den Brief, schob ihn in seine Umhangtasche und drehte sich zu Anastasia um. "Nastia?", fragte er. Sie hob den Kopf und sah ihn an. "Ja?" Wende dich Anastasia zu, ich bin mir sicher, ihr werdet euch mögen. Du verdienst etwas besseres als mich. Jenneth zögerte kurz, dann kam er an ihre Seite und wandte ihr den Kopf zu. "Versprichst du mir, mich nicht den Turm runterzuwerfen?", wollte er wissen. Irritation zeichnete sich auf ihren elfengleichen Zügen ab und sie nickte. "Ja." "Gut.", murmelte er rau, zog sie zu sich und küsste sie. Ganz vorsichtig und behutsam.
Geh und lebe dein Leben, sei glücklich. Nicht um meinetwillen, sondern um deinetwillen, Jenneth. Tue es für dich.

Loveless || Gellert Grindelwald FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt